Wolgang Kubicki: «Die Kanzlerin bewegt sich am Rande der Amtsanmassung»
Kanzlerin Merkel überdehne in der Coronakrise ihre Kompetenzen, kritisiert Bundestagsvizepräsident Kubicki. Der FDP-Vize stützt sich dabei auf ein aktuelles Bundestagsgutachten.
Die Runden der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder sind zum zentralen Entscheidungsorgan der Politik in der Coronakrise geworden. Dabei ist in der Verfassung ein solches Gremium mit keinem Satz erwähnt. Auf welcher Rechtsgrundlage koordinieren Angela Merkel und die Bundesregierung die Maßnahmen der Bundesländer zur Eindämmung des Coronavirus, wollte daher FDP-Vize Wolfgang Kubicki vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags wissen.
Das Gutachten, das seit Mittwoch vorliegt, kommt zu dem Schluss, dass sich die Bundesregierung in der Coronakrise Kompetenzen angeeignet habe, die die Bundesländer entmachten und damit der föderalen Ordnung widersprechen.
Die Autoren verweisen unter anderem auf Artikel 65 des Grundgesetzes. Darin wird die sogenannte "Richtlinienkompetenz" der Bundeskanzlerin geregelt. Hieraus folge nur eine Befugnis, Bundesministern Rahmenvorgaben zu machen. "Gegenüber den Ländern entfaltet diese Vorschrift keine Wirkung", heißt es in dem Gutachten.
Ähnlich verhält es sich den Gutachtern zufolge mit Artikel 84 des Grundgesetzes. Demnach kann der Bundesregierung durch ein Bundesgesetz, dem der Bundesrat zustimmen muss, die Befugnis verliehen werden, zur Ausführung eines Gesetzes für besondere Fälle Einzelweisungen zu erteilen. Das Infektionsschutzgesetz enthalte allerdings, so die Ansicht der Bundestagsjuristen, keine Einzelweisungsbefugnisse. Sie kommen daher zu dem Schluss, dass das Instrument der Einzelweisung "zur grundsätzlichen und umfassenden Koordinierung der bundesweiten Maßnahmen kaum einschlägig sein dürfte".
Merkel hatte sich in den vergangenen Wochen mehrfach mit den Ministerpräsidenten zusammengeschaltet, um das Vorgehen in der Coronakrise zu besprechen. Die Runde fasste dabei einhellige Beschlüsse über bestimmte Maßnahmen im Kampf gegen das Virus. Diese hatten aber zumeist den Charakter von Leitlinien, deren konkrete Umsetzung dann in den Ländern erfolgte.
Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn habe gegenüber den Ländern kaum Befugnisse, heißt es in dem Gutachten. Sein Ministerium könne gemäß Paragraf 5 Absatz 6 des Infektionsschutzgesetzes in einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite Empfehlungen abgeben, um ein koordiniertes Vorgehen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen. Dabei kann es sich auf das Robert Koch-Institut berufen.
Dadurch werde die Kompetenz der Bundesländer zur landeseigenen Verwaltung im Bereich des Infektionsschutzes aber "nicht eingeschränkt", so das Gutachten. Ein "verbindliches Weisungsrecht" des Robert Koch-Instituts gegenüber Behörden der Bundesländer lege das Infektionsschutzgesetz nicht fest.
"Die Bundeskanzlerin bewegt sich bei der Bewältigung der Corona-Epidemie am Rande der Amtsanmaßung", sagte Bundestagsvizepräsident Kubicki dem SPIEGEL. "Das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes stützt meine Rechtsauffassung." Weder habe Merkel die rechtliche Befugnis zur Koordinierung der grundrechtseinschränkenden Maßnahmen noch könne sie in diesem Zusammenhang Weisungen aussprechen. Ihre Richtlinienkompetenz gelte nicht gegenüber den Bundesländern.