Wie das Coronavirus die Arbeit von Hilfsorganisationen bedroht
Durch Reiseverbote und Quarantänemaßnahmen ist auch die Arbeit vieler Nichtregierungsorganisationen derzeit kaum möglich. Dabei wird ihre Hilfe nun gebraucht wie nie zuvor.
Die Coronakrise ist nicht die einzige, mit der die Welt zu kämpfen hat. Sie ist nicht einmal die schlimmste Krise, zumindest was die direkte Bedrohung der Menschen in vielen Ländern weltweit betrifft. Mehr als das Virus fürchten viele Menschen, dass sie an Hunger und Unterversorgung sterben könnten.
Auf einigen Kontinenten ist das bereits eine ernst zu nehmende Gefahr. Soziale Distanz ist vielerorts nicht möglich. Viele Menschen leben von der Hand in den Mund. Gehen sie nicht zur Arbeit, verdienen sie auch kein Geld – und können sich keine Nahrung kaufen.
Die Präventionsmaßnahmen zur Eindämmung von Covid-19-Infektionen erschweren derzeit zudem auch die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern versuchen, geflüchteten, hungernden und kranken Menschen zu helfen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) klagt derzeit über Lieferengpässe, und Mitarbeiter haben Schwierigkeiten, in afrikanische Länder zu reisen. Auch das Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und das Welternährungsprogramm (WFP) suchen nach Möglichkeiten, den Reiserestriktionen und Mangel an Flugzeugen zum Trotz ihre Hilfsmitarbeiter und -güter in Krisenherde zu transportieren. Viele weitere NGOs warnen vor Medikamenten- oder Lebensmittelknappheit.
"Die Ausbreitung des Coronavirus wird in vielen Ländern weltweit, die heute im Fokus der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit stehen, gravierende Auswirkungen haben", sagt Thomas Beckmann, Sprecher der Diakonie Katastrophenhilfe. "Menschen in Flüchtlingscamps, in den informellen Siedlungen der Megacitys oder in Ländern mit unzureichender Gesundheitsversorgung sind den Folgen des Virus schutzlos ausgeliefert und benötigen dringend Unterstützung."
Hinzu kommt, dass viele internationale Mitarbeiter der NGOs ihre Einsatzländer im Zuge der Coronakrise verlassen mussten. Einige Länder benötigen aber eher zusätzliche Kapazitäten, um gegen Fake News vorzugehen oder die nötigste Versorgung ihrer Einwohner sicherzustellen. Außerdem ist ein weltweites Ringen um Masken und Desinfektionsmittel entstanden, mancherorts sollen bereits gekaufte und dringend benötigte Schutzmasken abgefangen worden sein, bevor sie ihr Zielland erreichten.
"Es ist ein sehr reales Risiko, dass nicht genug für die ärmsten Länder der Welt übrig bleiben wird", sagt Gayle Smith. Die Präsidentin von ONE - einer internationalen Bewegung, die sich "für das Ende extremer Armut und vermeidbarer Krankheiten bis zum Jahr 2030 einsetzt" - arbeitete unter anderem als entwicklungspolitische Beraterin für den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama und war Leiterin der US-Behörde für internationale Entwicklung.
"Diese Krise wird ohne Frage sehr teuer. Wir müssen aber investieren, und zwar nicht nur in unsere Wirtschaft, sondern zusätzlich in alle Menschen und Länder. Denn wenn uns eine globale Pandemie eines lehrt, dann dass keiner von uns sicher ist, solange es all die anderen auf dem Planeten nicht auch sind", so Smith.
Vor Ort erfordert der Einsatz von NGOs derzeit aufgrund von Nahrungsengpässen, Mitarbeitermangel, Einschränkungen des Bewegungsradius und Schulschließungen Kreativität. Hier erzählen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in Indien, Sambia, dem Irak und El Salvador, ob und wie sie in der Coronakrise noch arbeiten können:
"Bei der Polizei nahm niemand ab. Also mieteten wir selbst 25 Laster, um die Menschen in ihre Dörfer zu fahren"
Ransingh Parmar arbeitet mit dem Mahatma Gandhi Seva Ashram zusammen, einer indischen Hilfsorganisation, die von der deutschen Welthungerhilfe finanziell unterstützt wird. Parmar lebt in Gwalior in Madhya Pradesh, einem Bundesstaat in Zentralindien. Sein Büro liegt an einer Schnellstraße Richtung Mumbai. Bis Delhi sind es mehr als 300 Kilometer. Rund 13.500 Corona-Fälle sind bisher im Land bekannt, mehr als 450 Menschen sind gestorben.
"Ich habe erst gar nicht verstanden, was vor sich geht. Die Regierung hatte Ende März eine Ausgangssperre verkündet und plötzlich waren da Tausende Menschen auf der Straße. Wanderarbeiter, die in den Städten von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit und damit ihr Einkommen verloren hatten, wollten zu Fuß in ihre Dörfer zurück.
Ich wurde Zeuge, wie Männer und Frauen Tag und Nacht unterwegs waren. Sie hatten kein Wasser und nichts zu essen bei sich, sie trugen ihr Gepäck auf dem Kopf und kleine Kinder auf dem Arm.
Wir hatten bis auf vier, fünf Leute all unsere Freiwilligen wegen der Ausgangssperre nach Hause geschickt, aber jetzt trommelten wir sie zusammen, damit sie Essen für die Menschen kochen. Bei der Polizei nahm niemand ab. Also mieteten wir selbst 25 Laster, um die Menschen in ihre Dörfer zu fahren. Wer krank wirkte, kam in Quarantäne. Das war unsere erste Woche.
Dann hörten wir, dass die Polizei die innerstaatlichen Grenzübergänge blockiert. Es gibt hier einen Fluss, der drei Bundesstaaten voneinander teilt. Im Wasser leben Krokodile. Aber die Menschen wateten einfach hindurch, um den Kontrollen aus dem Weg zu gehen.
Mittlerweile hat die Regierung versprochen, den Armen zu helfen. Sie sollen Geld auf ihre Konten erhalten, aber wer soll das Geld überweisen? Die Bankmitarbeiter erscheinen nicht zur Arbeit, weil sie Angst haben. Für uns geht es deshalb jetzt vor allem darum, sicherzustellen, dass die Hilfe die Menschen auch erreicht.
Das ist eine Herausforderung. Unsere Mitarbeiter haben einen Passierschein, aber sonst soll niemand das Haus verlassen. Es ist Außenstehenden auch verboten, die Dörfer zu betreten. Die Frage war: Wie schützen wir uns selbst und andere? Wir müssen die kostenlosen Essensrationen am Ortseingang ablegen.
Es gibt keine Masken zu kaufen, auch die Behörden haben keine. Wir mussten uns etwas einfallen lassen. Wir haben ein Projekt, in dem wir Frauen zu Schneiderinnen ausbilden. 50 von ihnen haben bislang 15.000 Masken hergestellt. 5000 haben wir den Behörden gegeben, die anderen Zehntausend sind für unsere Freiwilligen. Und wir haben jetzt schon Nachfragen für Tausende mehr.
Es gibt viele Probleme. Jetzt ist die Zeit gekommen, füreinander da zu sein. Nicht nur wir als Inder, sondern die ganze Welt."
Protokoll: Laura Höflinger
"Wir fahren mit Autos durch entlegenere Orte und sprechen über ein Megafon. Es ist besser als nichts"
Malama Mwila, 32, arbeitet seit zwei Jahren für Save the Children in Sambia. In dem Land im südlichen Afrika konzentriert sich die internationale Hilfsorganisation seit 1983 darauf, Kindern den Zugang zu Bildung zu ermöglichen und sie mit Nahrung zu versorgen. Mehr als die Hälfte der 16 Millionen Einwohner ist jünger als 18 Jahre und lebt in Armut. Vor allem auf dem Land. Wie in vielen afrikanischen Ländern sind die Menschen hier auch durch Vorerkrankungen und mangelhafte medizinische Versorgung vom Coronavirus besonders bedroht.
Mwila lebt in der Hauptstadt Lusaka. Normalerweise reist er für seine Arbeit in viele der ländlichen Regionen und betreut Menschen vor Ort. Derzeit organisiert er hauptsächlich Präventionsmaßnahmen, die landesweit zu einer Eindämmung des Virus beitragen sollen. Sambia hat bislang 48 registrierte Corona-Fälle.
"Ein Großteil meiner Arbeit besteht normalerweise darin, in persönlichem Kontakt mit Menschen zu sein. Ich besuche zum Beispiel Schulen, an denen wir Essen ausgeben. Dort rede ich viel mit den Kindern. Das ist wichtig, damit ich weiß, was sie benötigen und wie es ihnen geht. Momentan ist das nicht möglich, denn wir wollen ja eine Ausbreitung des Coronavirus verhindern.
Manchmal fahren wir mit Autos durch entlegenere Orte, um auch dort über Covid-19 aufzuklären und grundlegende Vorbeugungsmaßnahmen wie Händewaschen und Abstandhalten zu vermitteln. Viele Menschen wissen noch gar nicht, was überhaupt los ist. Wir steigen nicht aus dem Auto aus, sondern sprechen über ein Megafon.
Es ist besser als nichts, aber am besten wäre es natürlich, wir könnten direkt mit den Menschen reden. Gerade jetzt, wo es in vielen Haushalten auch zu mehr Gewalt und sexuellen Übergriffen gegenüber Kindern kommen wird. Sie schreiben uns ja keine SMS, wenn etwas passiert. Davon erfahren wir sonst im persönlichen Gespräch.
Als eine der ersten Maßnahmen hat die Regierung die Schulen und Universitäten geschlossen. Das ist ein großes Problem. Zum einen, weil deshalb für viele der Unterricht entfällt. Wir versuchen zwar, ihn mittels neuer Programme aufrechtzuerhalten, doch das stellt uns ebenfalls vor große Herausforderungen. Online zu lernen ist für einen Großteil der Kinder keine Option. Sie haben keine eigenen Computer und von zu Hause auch nur selten Zugang zum Internet.
Für uns in der NGO ist das auch schwierig. Momentan dürfen nur zehn der sonst 40 Mitarbeiter in unserem Büro sein. Zu Hause aber haben wir oft Stromausfall von sieben Uhr früh bis neun Uhr abends, da kann man keinen Laptop laden. Wir arbeiten nun mit Radio- und TV-Sendern zusammen, die Generatoren haben und Lernsendungen ausstrahlen können, um so wenigstens etwas Unterricht für alle zu ermöglichen.
Der andere Teil des Problems ist, dass die Kinder nun oft hungern. 4,2 Millionen Kinder gehen nicht mehr in die Schule, wo sie sonst jeden Tag eine Mahlzeit erhalten. Ihre Familien können diese wichtige Mahlzeit zu Hause meistens nicht ersetzen. Sie haben selbst nicht genug Nahrung. Wir geben derzeit Grundnahrungsmittel wie Bohnen und Mais, die sich noch in den Lagerräumen der Schulen befinden, in Rationen an die Eltern aus.
Das ist allerdings auch ein Risiko, weil wir so nicht sicherstellen können, dass die Kinder wirklich das Essen bekommen. Es wird vermutlich von allen im Haushalt gegessen und dann bleibt für sie kaum etwas übrig. Aber was sollen wir machen? Wir haben keine Wahl.
Langfristig werden wir noch viel mehr Lebensmittel brauchen, weil nun ja auch kaum noch jemand arbeiten kann und alles, was die Menschen zum Überleben benötigen, immer teurer wird. Ich habe große Angst, dass wir nicht genug Ressourcen haben werden, um all die Menschen zu erreichen, die dringend unsere Hilfe benötigen."
Protokoll: Anne Backhaus
"Viele Patienten, die es dringend nötig hätten, können wir derzeit nicht sehen. Wir versuchen, per Telefon ihren Zustand einzuschätzen"
Dr. Htet Aung Kyi ist Arzt aus Myanmar, im irakischen Mossul koordiniert er die Einsätze von Médecines sans frontiéres. Die Organisation leistet weltweit in Krisengebieten chirurgische Hilfe, bekämpft Epidemien, führt Impfkampagnen durch, betreibt Ernährungszentren für Mangelernährte, kümmert sich um Schwangere und Neugeborene.
Die Ärzte ohne Grenzen sind auch im schwer von Krieg geschädigten Irak tätig. Besonders Mossul, die Hochburg des "Islamischen Staates" war schwer umkämpft. Zurückgeblieben sind Ruinen und traumatisierte Menschen.
"Seit einem Monat herrscht im Irak ein strikter Lockdown mit Ausgangssperre. Man darf nur noch für das Allernötigste auf die Straße gehen. In Mossul betreiben wir ein chirurgisches Center für Menschen mit Kriegsverletzungen. Wir versorgen Verletzungen an den Beinen und Armen. Wir bekämpfen Entzündungen. Normalerweise sehen wir 15 bis 20 Patienten am Tag. Die meisten können derzeit gar nicht zu uns gelangen, dabei hätten einige es dringend nötig. Wir versuchen jetzt per Telefon ihren Zustand einzuschätzen. Wir fragen sie etwa, ob sie Fieber haben, Schmerzen oder Schwellungen. Einige mussten wir schon notfallmäßig einbestellen.
Wir betreiben auch zwei Kliniken für Schwangere und Neugeborenen. Die Frauen kommen aus der Region. Unseren Zentren werden pro Monat bis zu 500 Babys geboren. Und allmählich wird das medizinische Material, Schutzanzüge, Masken, knapp. Wir haben Vorräte, die noch ein- bis eineinhalb Monate reichen. Schon jetzt bemühen wir uns um Ersatz, das ist aber schwieriger geworden auf dem internationalen Markt. Dazu sind die Einfuhrbestimmungen in den Irak sehr kompliziert.
Den Höhepunkt der Infektionswelle haben wir hier noch nicht erreicht. Ärzte ohne Grenzen hilft jetzt der Stadt Bagdad, Krankenhäuser auf die Krise vorzubereiten. Auch in unseren Zentren in Mossul können wir bis zu 70 Betten zur Verfügung stellen. Die Zahlen steigen, wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen."
Protokoll: Jan Puhl
"Mehrere unserer Teams waren in Ländern wie Mexiko oder Guatemala unterwegs, als die Ausgangssperre in El Salvador begann – es war schwierig, sie zurückzuholen"
Celina de Sola, die Gründerin der NGO Glasswing International, bekämpft mit Bildungs- und Gesundheitsprojekten in El Salvador und anderen lateinamerikanischen Ländern seit 2007 Ursachen und Folgen von Armut und Gewalt. Mentorenprogramme an Schulen und Jobtraining sollen Jugendlichen etwa Chancen abseits von Gangkriminalität ermöglichen. Jetzt muss die NGO die gesellschaftlichen Auswirkungen der Anti-Corona-Maßnahmen abfedern.
El Salvador besitzt eine der höchsten Mordraten weltweit, die soziale Ungleichheit ist extrem – und das Coronavirus verschärft die Probleme. Das Sieben-Millionen-Einwohner-Land versucht, die drohende Gesundheitskrise mit drastischen Maßnahmen wie einer landesweiten Ausgangssperre zu verhindern. 177 Corona-Fälle sind bisher bekannt, fünf Menschen gestorben.
"Mehrere unserer Teams waren in Ländern wie Mexiko oder Guatemala unterwegs, als die Ausgangssperre in El Salvador begann – es war schwierig, sie zurückzuholen, mehrere Teammitglieder mussten 30 Tage lang in Quarantäne, weil die Regierung das so vorschreibt.
Niemand darf sein Haus verlassen und die Schulen sind geschlossen, deswegen können unsere Freiwilligen dort nicht mehr mit den Schülern arbeiten. Wir versuchen Bildungsangebote digital bereitzustellen, aber nicht alle haben Internet. Die Mentoren schicken den Schülern regelmäßig eine Textnachricht oder rufen sie an. Selbst, wenn sie nur per SMS oder WhatsApp nachfragen, wie es den Schülern geht oder bei Hausaufgaben helfen, haben die das Gefühl, dass sie Unterstützung bekommen.
Es ist für alle eine neue Situation, der Stress und die Angst sind groß und zwischenmenschliche Verbindungen sind extrem wichtig. Man fühlt sich weniger allein, wenn jemand regelmäßig nachhakt: Wie kommst du klar? Wie geht es dir?
Was mich gerade am meisten beunruhigt, sind die wirtschaftlichen Folgen und eine mögliche Zunahme häuslicher Gewalt. Menschen, die im informellen Sektor arbeiten und schon vorher arm waren, verdienen gar nichts mehr. Dazu leben oft viele Leute zusammen in einem Haus – die Coronakrise verstärkt den Stress.
Die Angst ist groß, auch weil sie nicht wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Wir machen viel Trauma-Arbeit, damit Menschen ihre Gefühle verstehen und besser mit ihnen umgehen können, und versuchen, Instrumente zur Stressbewältigung zur Verfügung stellen – zum Beispiel einen digitalen Leitfaden, der Eltern zeigt, wie sie ihre Kinder den ganzen Tag beschäftigen können.