Philosophie Coronavirus-Lockdown: Wir müssen übers Sterben reden
Leid und Trauer erscheinen unvermeidbar, auch Einschränkungen unseres Lebens - das neue Coronavirus stellt uns vor fürchterliche Entscheidungen. Wir müssen zwischen verschiedenen epidemiologischen Strategien wählen. Wie sollen wir umgehen mit der Lungenseuche? Und indem wir diese Wahl treffen, bestimmen wir darüber, wie wir mit dem Tod umgehen. Wie wir sterben wollen.
Die Frage ist, welche Herangehensweise an die Epidemie umfangreichere Zerstörungen mit sich bringt: die Unterdrückung der Infektion oder die regulierte Ausbreitung.
Die konsequente Unterdrückung wird in Ostasien praktiziert, wo es aus humanökologischen Gründen eine Tradition von immer wieder aufflammenden Grippe-Epidemien gibt. In den übrigen Teilen der Welt war der Umgang mit Influenzawellen bisher weitgehend vom Laisser-faire geprägt – man vertraute auf das eigene Immunsystem und ließ zu, dass viele Menschen mit der Grippe starben.
"Mit der Grippe" wohlgemerkt und nicht "an der Grippe"; früher hätte man einfach von Altersschwäche gesprochen. Die aktuell vorherrschende Wahrnehmung des Coronavirus stellt diese Laisser-faire-Haltung infrage: Ein Geschehen wie in Oberitalien müsse, so heißt es, um jeden Preis vermieden werden. Alles andere sei Zynismus.
Heißt das: Jegliche Abwägung wäre Zynismus?
Wir müssen vergleichen
Diesem moralischen Reflex ist entgegenzuhalten, dass wir immer schon den Tod oder, besser gesagt, unnötig verlorene Lebensjahre in unserer Gesellschaft mehr oder weniger stillschweigend hinnehmen. Angehörige der weniger privilegierten Schichten in Deutschland sterben im Schnitt sieben Jahre früher als Menschen in privilegierten Lebensumständen. Die Lebenserwartung in den OECD-Ländern liegt bei 80 Jahren, in Afrika südlich der Sahara bei 61 Jahren. Wir ertragen es, dass jährlich Zigtausende in den Flüchtlingslagern vor den Toren Europas verelenden. Wir akzeptieren, dass für unseren obszönen Luxuskonsum das Klima und damit das Schicksal der kommenden Generationen geopfert wird.
So viel zur gegenwärtig viel beschworenen Solidarität oder, anders ausgedrückt, zum Zynismus des Normalzustands.
Implizit wägen wir schon im Normalzustand ab; jetzt müssen wir explizit abwägen. Nur: nach welchen Maßstäben?