Obdachloser über Krisenalltag: «Wenn ich jetzt eine Wohnung hätte, würde ich drinbleiben»
Seit Wochen ziehen sich die Menschen in ihr Zuhause zurück. Wie geht es jemandem, der keines hat? Unser Reporter hat einen, Stefan, wochenlang begleitet.
Von seinem Schlafzimmer aus blickt Stefan auf weiße Buchstaben, die nachts kalt leuchten: HAMBURGER FEUERKASSE. Von seinem Balkon sieht er den HSV-Fan-Shop, weiter links das Eckhaus mit der Fassadenuhr, in dem die Scientology-Kirche sitzt.
"Mein Schlafzimmer ist mein Schlafsack", sagt Stefan. "Mein Balkon ist die Bushaltestelle am Speersort."
Seinen Nachnamen hält Stefan für unwichtig, es ist 21 Jahre her, dass sich jemand dafür interessierte. Damals ließ er sich scheiden. "Wir hatten eine Dreizimmerwohnung in Flensburg, Mommsenstraße, 2. Stock. Ein Wohnzimmer mit weißen Wänden. Nun ist Hamburg mein Wohnzimmer, die ganze Stadt. Ich liebe große Wohnzimmer. Ich liebe die Alster-Schwäne."
Im Radio haben sie gesagt, er gehöre zur Risikogruppe
Seine Mitbewohner heißen Dieter, Vivi, Kilian, Waldi, sie schlafen auf dem Kiez, in der Mönckebergstraße, vor der Roten Flora.
Am Morgen nach Angela Merkels Appell an die Deutschen, unnötige Begegnungen zu vermeiden, sitzt Stefan mit übereinandergeschlagenen Beinen in seiner Bushaltestelle und trinkt Sangria aus einem Tetra Pak. Er trägt Bart und Wollmütze, sein Gesicht hat er in den Schaufenstern vieler deutscher Städte altern sehen, in Flensburg, Stuttgart, Kiel, Herford. Er ist 55 Jahre alt. Seit 21 Jahren obdachlos.