Leopoldina-Forscher legen konkreten Fahrplan für Ende der Kontaktsperren vor
Die Nationalakademie Leopoldina empfiehlt eine baldige Rückkehr zur Schule. Auch Geschäfte und Behörden sollen schrittweise eröffnen und Reisen erlaubt werden – aber unter Bedingungen, so ein Papier, das dem SPIEGEL vorliegt.
In ihrem bislang letzten öffentlichen Auftritt kurz vor Ostern hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel klar formuliert, von welchem wissenschaftlichen Rat sie sich bei ihrem weiteren Vorgehen in der Corona-Pandemie leiten lassen will. "Für mich wird eine sehr wichtige Studie die der Nationalen Akademie der Wissenschaften, der Leopoldina sein", erklärte Merkel auf einer Pressekonferenz vergangenen Donnerstag. Es ginge darum, für die anstehenden Entscheidungen "auf festem Grund" zu stehen. Nur so könnten die vielen drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens wieder aufgehoben werden, so Merkel.
Jetzt ist die Arbeit erschienen, und die Forschungsgemeinschaft mit Sitz in Halle ist ihren Erwartungen gerecht geworden. Auf 19 Seiten hat sie nicht nur medizinisch, ökonomisch, verfassungsrechtlich und psychologisch abgewogen, sondern präzise Handlungsempfehlungen gegeben. Es gelte, "über die akuten Einschränkungen zentraler Grundrechte wie die Bewegungsfreiheit hinaus Kriterien und Strategien zur allmählichen Rückkehr in die Normalität zu entwickeln", schreiben die Forscher der "Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina" in ihrer Ad-hoc-Stellungnahme, die dem SPIEGEL vorab vorlag.
26 Gelehrte hatten über die Ostertage in einem stundenlangen Diskussionsverfahren einen Konsens hergestellt, welche Empfehlungen sie der Regierung geben. Namhafte Wissenschaftler wie der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen Lars Feld, die Ethikerin Claudia Wiesemann, der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel oder der Soziologe Armin Nassehi stimmten sich dafür in Telefonkonferenzen ab und entwickelten klare Maßstäbe, wie die neuen Freiheiten den Bürgern gegeben werden können.
Leopoldina-Präsident Gerald Haug sagte dem SPIEGEL: "Wir wollten in der aufgeregten politischen Debatte eine ruhige und abgewogene Grundhaltung einnehmen, den Bürgern aber eine optimistische Perspektive aufzeigen." Oberstes Gebot sei "der Schutz jedes einzelnen Menschen" vor der Ansteckung mit dem Coronavirus. "Eine zweite Infektionswelle müssen wir um jeden Preis vermeiden", so Haug. "Grundregel muss auch weiterhin bleiben, die gelernten Abstands- und Hygienemaßnahmen weiter einzuhalten." Doch daraus ließen sich nun durchaus Lockerungen ableiten, gemäß der Maßgabe: Zwei Meter Abstand, und wenn dies nicht möglich ist, dann Schutzmasken auf.
"Optimaler Gesundheitsschutz und die alsbaldige Wiederaufnahme des gegenwärtig weitgehend stillgelegten gesellschaftlichen Lebens stehen nicht prinzipiell in Spannung zueinander, sondern bedingen einander wechselseitig", schreiben die Akademiker. Die drastischen Maßnahmen seien in der hektischen Anfangsphase der Pandemie gerechtfertigt gewesen, auch ohne ausreichende wissenschaftliche Datenlage.
Doch nun müsse diese drastisch verbessert werden. Mit Hilfe von geeigneten Stichproben müsse "der Infektions- und Immunitätsstatus der Bevölkerung" erforscht werden, mithin also die Frage, wie viele Menschen infiziert und genesen sind. Möglichst in Echtzeit sollte das Seuchengeschehen beobachtet und Vorhersagen für die nächsten ein bis zwei Wochen möglich sein. Nur so könne bei einer Lockerung der Kontaktverbote beurteilt werden, ob die Infektionszahlen beherrschbar bleiben oder ob "nachjustiert" werden müsste. Unterschwellig äußern die Gelehrten dabei Kritik, dass dies nicht schon besser erhoben und auf nationalem Niveau digital verfügbar ist.
Die Leopoldina-Forscher fordern deshalb auch, auf Smartphone-Apps zurückzugreifen. Genutzt werden sollten ähnlich wie in Südkorea "freiwillig bereitgestellte GPS-Daten in Kombination mit Contact-Tracing", also dem Austausch zwischen den Smartphones mit Hilfe der Bluetooth-Technik. Auf diese Weise könnte leichter nachvollzogen werden, mit wem ein Neuinfizierter Kontakt gehabt hatte. Diese Personen könnten dann wiederum in Quarantäne gehen.
Leopoldina-Präsident Haug ist sich bewusst, dass vor allem das Speichern von GPS-Daten rechtlich problematisch ist. "Deshalb darf die Nutzung der Apps auch nur freiwillig geschehen, und die Daten müssen nach vier Wochen wieder gelöscht werden", sagte er dem SPIEGEL. Den Bürgern müsste die Sinnhaftigkeit der App klar gemacht werden, nur so ließe sich Akzeptanz und Motivation erzeugen. "Diese App ist entscheidend, um eine differenzierte Vorhersage des Pandemieverlaufs sicherzustellen", sagt Haug, der selber Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz ist.
Eine entsprechende App bereiten Softwarefirmen bereits im Auftrag der Bundesregierung vor. Dies vorausgesetzt, empfehlen sie, wieder zur Normalität zurückzukehren, und zwar "möglichst zeitnah". Sie konzentrieren sich dabei vor allem auf drei Bereiche: die Bildung, das öffentliche Leben und die künftige Wirtschaftspolitik.
Kitas, Schulen und Universitäten
Die Leopoldina-Forscher drängen stark darauf, die Schulen "sobald wie irgend möglich" wieder zu eröffnen. Denn das Lernen daheim würde die ohnehin bereits stark ausgeprägte soziale Ungleichheit in der Bildung weiter verschärfen. Weil dies vor allem für die Grundschulen gelte, wo Lerninhalte in der Gemeinschaft vermittelt würden, sollen diese als erste öffnen, und zwar zunächst die oberen Jahrgänge, in denen die Schüler vor dem Übergang zu den weiterführenden Schulen stünden. Die Kinder müssten dabei "Mund-Nasen-Schutz" tragen, sie sollten zunächst auch erst in den Grundfächern Deutsch und Mathematik in einer "Gruppengröße von maximal 15 Schülerinnen und Schülern" unterrichtet werden. Je nach Lerngruppe sollten sie getrennt in die Pause gehen.
In der weiterführenden Schule sollten neben Deutsch und Mathe auch Fremdsprachen unterrichtet werden, auch hier sollte mit den Stufen begonnen werden, die vor dem Wechsel in den Beruf oder die Oberstufe stehen. In der gymnasialen Oberstufe hingegen solle vermehrt "auf das selbstorganisierte Lernen auf Basis digitaler Medien" gesetzt werden, generell gelte es aber "die Prüfungsmöglichkeiten auf allen Bildungsetappen aufrechtzuerhalten", das heißt, Klausuren und mündliche Prüfungen, auch Abiturprüfungen, sollten wegen der Pandemie nicht geschliffen werden.
Kindertagesstätten sollten nach Leopoldina-Rat "bis zu den Sommerferien" nur einen Notbetrieb anbieten. Grund: Die Kleinsten könnten nicht mit Schutzmasken umgehen, die Gefahr, dass sich das Virus so auf Eltern und Großeltern ausbreite, sei zu groß. Auch an den Universitäten sollte das Sommersemester "weitgehend als online/home-learning-Semester" zu Ende geführt werden.
Das öffentliche Leben
Die Leopoldina-Wissenschaftler geben der Bundesregierung einen klaren Auftrag, eine Exitstrategie zu verfolgen, schon "aus verfassungsrechtlichen Gründen" sei dies geboten. Wenn die Zahl der Neuinfektionen stabil auf niedrigem Niveau verharre, sowohl Corona- als auch normale Patienten gesundheitlich versorgt werden könnten und die Menschen sich weiter an die Hygienemaßnahmen hielten, stünde der Normalisierung des öffentlichen Lebens nichts im Wege. Einzelhandel und Gaststätten könnten wiedereröffnen, auch "der allgemeine geschäftliche und behördliche Publikumsverkehr" wieder aufgenommen werden.
Auch hier gilt: Maskenpflicht. "Jeder Bürger sollte so ein Ding künftig bei sich tragen und wo immer der Mindestabstand nicht eingehalten wird auch anziehen", sagt Haug. Das gelte im Supermarkt, wo man sich nahe kommt, auf dem Amt und auch in der Arbeit. Wo möglich, sollte die Arbeit im Homeoffice fortgesetzt werden. Wenn das nicht möglich ist, müsse im Schichtbetrieb gearbeitet werden, immer in der gleichen personellen Zusammensetzung und mit größerem Abstand zwischen den Arbeitsplätzen. Auch in der Kantine müssten diese Arbeitsgruppen jeweils zusammen sitzen, sie dürften sich nicht mischen.
Unter diesen Prämissen dürfte auch wieder gereist werden, dienstlich wie auch privat. In der Bahn, im Flugzeug und in den Bussen müssten die Menschen auf größtmöglicher Distanz bleiben, sowie Mund- und Nasenschutz tragen. Haug legt nahe, dass die Bahn ein entsprechendes Reservierungssystem etabliert, damit bestimmte Sitzreihen zwischen den Passagieren frei blieben. Bei Freizeitveranstaltungen wie Konzerten oder Sportveranstaltungen gelte bei der Wiederaufnahme, wie stark die Menschen dabei in Kontakt miteinander kommen, beziehungsweise, wie gut sie voneinander distanziert werden könnten.