Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: Europas tödliche Verzögerungstaktik
Fünf Tote, sieben Vermisste: Mitten in der Corona-Pandemie will Europa mit aller Macht verhindern, dass Flüchtlinge ankommen - und verzögert Rettungen. Besonders Malta steht in der Kritik.
Xandru Cassar will am Sonntag gerade das Osterfest feiern, als er von den Flüchtlingsbooten hört, die niemand rettet. Cassar, 18 Jahre alt, stolzer Malteser, schaut sich an Ostern normalerweise die Messe im Fernsehen an, das ist ihm wichtig. An diesem Sonntag aber packt ihn die Wut. Er schnappt sich seinen Rucksack und fährt mit dem Fahrrad Richtung Amtssitz des Premierministers.
Keine halbe Stunde später sitzt er auf den Stufen des "Auberge de Castille" in Valleta, der Hauptstadt Maltas. In seiner Hand hält er ein Plakat aus brauner Pappe. "Man kann Menschen nicht sterben lassen", hat Cassar geschrieben. "Weder am Ostersonntag, noch an einem anderen Tag".
Die Menschen für die Cassar demonstriert, sitzen zu diesem Zeitpunkt in einem kleinen Boot. 63 Flüchtlinge drängen sich an Bord, sie kommen aus Eritrea und dem Sudan, unter ihnen sind acht Frauen und drei Kinder. Drei Tage zuvor sind sie aus Libyen aufgebrochen. Inzwischen haben sie die maltesische Rettungszone erreicht. Aber Malta schickt kein Rettungsschiff.
Die Flüchtlinge hatten dem "Alarmphone" die Position durchgegeben. Die NGO leitet Notrufe von Flüchtlingen an die Rettungsleitstellen in Rom, Tripolis oder Valletta weiter. Auch dieses Mal informieren die Aktivisten die Behörden, bitten um eine Rettungsaktion, mindestens vier Boote seien in Seenot, schreiben sie.
Auf Twitter teilen die Aktivisten die Hilferufe der Flüchtenden. "Wir sind nicht okay", sagt eine Frau am Telefon. Zwei Leute seien bereits tot. "Es gibt kein Wasser, kein Essen."
In der Coronakrise schottet sich Europa noch stärker ab als zuvor. Das Virus dient als Begründung, um Flüchtende nicht mehr an Land zu lassen. In der Pandemie schützen Nationalstaaten vor allem die eigenen Bürger. Die Rechte von Migranten und Flüchtlingen leiden als erstes.
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Man habe nicht die Ressourcen, um mitten in der Pandemie Quarantänemaßnahmen für anlandende Migranten durchzuführen, heißt es. Auch die Sorge vor weiteren Infizierten an Bord sei groß.
Malta verzögert zudem offensichtlich Rettungsaktionen, obwohl das völkerrechtlich verboten ist. Die Regierung will um jeden Preis verhindern, dass Geflüchtete auf Malta an Land kommen. Migranten beschuldigten das Militär jüngst, ihren Motor unbrauchbar gemacht zu haben.
Der Inselstaat setzt darauf, dass die Flüchtlinge von der libyschen Küstenwache und zivilen Schiffen abgefangen und nach Tripolis gebracht werden - oder es alleine bis nach Italien schaffen. Zwei Boote gelangten in dieser Woche in der Tat aus eigener Kraft an die italienische Küste.
Erik Marquardt, Europaabgeordneter der Grünen, hat an Ostern sieben Mal versucht, den Seenotfall bei der Rettungsleitstelle in Valletta zu melden. Die Aufnahmen der Anrufe liegen dem SPIEGEL vor. Man sei beschäftigt und rufe zurück, hieß es. Manches Mal legten die Mitarbeiter einfach auf. Auch auf eine E-Mail habe er keine Antwort bekommen, sagt Marquardt.
Spätestens seit Mittwoch ist klar, dass die europäische Verzögerungstaktik tödlich ist. In Tripolis gingen an diesem Tag nur 51 der 63 Flüchtlinge an Land. Fünf Menschen wurden tot im Boot gefunden, sieben weitere werden vermisst.
Zuvor hatte ein libysches Fischerboot die Menschen in der maltesischen Rettungszone an Bord genommen und nach Libyen zurückgebracht. Die Rettungsleitstelle habe die Aktion koordiniert, sobald die Migranten in der maltesischen Rettungszone gewesen seien, teilte Malta mit. Ein Hubschrauber des maltesischen Militärs soll laut "Alarmphone" über dem Boot geflogen sein.
Die Flüchtlingsaktivisten werfen der maltesischen Regierung vor, das Leben der zwölf Flüchtlinge auf dem Gewissen zu haben. "Die Rettungsstelle hat zu spät und nicht angemessen reagiert", sagt Maurice Stierl, Aktivist von "Alarmphone".
Drei Migranten seien ertrunken, weil die Malteser zunächst nur ein untaugliches Frachtschiff zur Hilfe gerufen hätten. Außerdem habe Malta die Aktion so koordiniert, dass die Menschen zurück in ein Kriegsland verfrachtet worden seien. "Während dieser langen Reise zurück nach Libyen sind zwei weitere Menschen verstorben, denen man vielleicht in Malta hätte helfen können."
Auch das Uno-Flüchtlingshilfswerks bezieht klar Position. Man hätte dieses Boot nie treiben lassen dürfen, sagt Vincent Cochetel, Libyen-Beauftragter des UNHCR. "Es ist klar, dass der Tod der Menschen hätte vermieden werden können, wenn diejenigen, die in der Lage waren, sie zu retten, dies rechtzeitig getan hätten."
Selbst für die Überlebenden des Bootsungslücks ist die Tortur nicht vorbei. Die 51 Flüchtlinge seien wohl in ein Internierungslager in Tarek al-Sikka gebracht worden, berichtet Cochetel dem SPIEGEL. In libyschen Haftlagern werden Flüchtlinge nicht nur gefangen gehalten, sondern gefoltert, vergewaltigt und getötet.
Malta bestreitet den von "Alarmphone" geschilderten Ablauf im Wesentlichen nicht. Man habe in der Nähe befindliche Schiffe zur Hilfe gerufen, sobald das Schiff in der eigenen Rettungszone gewesen sei, heißt es in einem Statement. Außerdem habe zuvor ein EU-Flugzeug das Flüchtlingsboot überflogen, die Position sei bekannt gewesen. Aber auch die EU habe keine Schiffe herbeigerufen.
Die harte Haltung Maltas dürfte auch damit zu tun haben, dass der Verteilungsmechanismus, den Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) einst durchgesetzt hatte, nicht mehr funktioniert. Wegen der Coronakrise werden in Malta ankommende Flüchtlinge nicht mehr auf aufnahmewillige europäische Staaten verteilt. Sie müssten also zunächst in Malta bleiben.
Sollten Italien und Malta ihre Verweigerungshaltung nicht aufgeben, droht das Mittelmeer wieder zum Massengrab zu werden. Aus der Türkei, Tunesien, Griechenland und Algerien würden seit Ausbruch des Coronavirus kaum mehr Menschen nach Italien aufbrechen, sagt der italienische Migrationsforscher Matteo Villa.