Coronavirus: Kritik an Heinsberg-Studie schließt Lockerung des Shutdowns nicht aus
Sie liefert Argumente für eine allmähliche Lockerung des Shutdowns, nun wächst Kritik an der Corona-Studie aus Heinsberg. Doch auch andere Analysen halten den schrittweisen Ausstieg für möglich.
"Es wird so viel wie möglich von unseren Freiheiten wieder entstehen - in neuer Rücksichtnahme, Verantwortung und Distanz", sagte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet am Donnerstag, als er den Landtag über erste Zwischenergebnisse einer Studie zum Coronavirus in Heinsberg unterrichtete. Damit weckte er Hoffnungen auf eine Lockerung des Corona-Shutdowns nach Ostern. Das Fundament der Entscheidung, betonte Laschet, müssten wissenschaftliche Expertise und interdisziplinärer Austausch sein.
Doch ausgerechnet an der Aussagekraft der von der Regierung Laschet finanzierten Studie, deren Zwischenergebnisse als Argument für eine Lockerung herangezogen werden, regt sich nun Kritik.
Am Donnerstag hatte Laschet gemeinsam mit Forschern um Studienleiter Hendrik Streeck über die ersten Erkenntnisse aus den Untersuchungen im Kreis Heinsberg informiert. Die Region gilt als Corona-Testbatterie, denn dort hatte sich das Virus nach einer Karnevalssitzung Mitte Februar rasant ausgebreitet.
Seit Wochen untersuchen Streeck und Kollegen den Infektionsverlauf. Sie nehmen Abstriche aus dem Rachen von Bewohnern, testen deren Blut auf Antikörper, fragen nach, mit wem sie Kontakt hatten.
Den ersten Zwischenergebnissen zufolge ist das Virus offenbar weniger tödlich als gedacht. Die Mortalitätsrate in Heinsberg lag bei 0,37 Prozent und damit fünfmal niedriger als im Rest Deutschlands. Und: Bei 15 Prozent der Probanden fanden sich Antikörper gegen das Virus. Diese Personen können sich zumindest für einige Monate, so erste Schätzungen von Forschern, nicht mehr anstecken. Virologen gehen davon aus, dass die Epidemie von selbst endet, sobald etwa 60 Prozent der Bevölkerung immun sind.
Die Forscher betonten in der Pressekonferenz wiederholt, dass die Ergebnisse nicht auf ganz Deutschland übertragbar seien. Auch der SPIEGEL hatte darüber berichtet. Weil die meisten Menschen beim Lockdown "so aktiv und diszipliniert" mitmachten, sei es jetzt möglich, in eine "Phase 2" einzutreten, sagte Streeck.
Doch geben die Ergebnisse das überhaupt her? Fragen und Kritik im Überblick.
Wie zuverlässig sind Antikörpertests?
Um eine Immunität festzustellen, spüren Tests im Blut der Probanden Antikörper gegen den Erreger auf. Das Problem: Die Hersteller können diese derzeit selbst zertifizieren, um sie auf den Markt zu bringen. Eine unabhängige Überprüfung ist nicht vorgeschrieben. Deshalb ist unklar, wie zuverlässig die Tests sind. Einige haben sich bereits als Fälschungen entpuppt.
Entscheidend für die Zuverlässigkeit ist, ob ein Test nur Antikörper gegen das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 erkennt oder auch gegen andere Coronaviren, die jedes Jahr zirkulieren.
In Heinsberg wurden Antikörpertests von Euroimmun benutzt, teilte Streeck "Zeit Online" mit. Die Firma aus Lübeck hat ihre Produkte nach eigenen Angaben an 1600 Blutproben getestet. Demnach wird nur ein Prozent der Fälle positiv getestet, obwohl die Betroffenen das neuartige Coronavirus überhaupt nicht in sich tragen. Bei einer Studie mit Prototypen der Tests hatten diese teilweise jedoch auch auf andere Coronaviren reagiert. Ob die Verfahren seitdem verändert wurden, ist unklar. "Diese Labortests haben eine hohe Rate an falsch positiven Signalen, rein technisch", sagte Virologe Christian Drosten im Interview mit dem "heute Journal".
Zuvor hatte Drosten in einem Pressebriefing des Science Media Center erklärt, den Antikörpertest von Euroimmun gebe es in zwei Versionen: für Antikörper vom Typ IgG und IgA. Welcher von beiden in Heinsberg benutzt worden ist, sei nicht klar. "Ich hoffe, es ist nicht das IgA dabei, denn dann wären das praktisch alles falsch Positive", sagte Drosten. Das heißt, der Test wäre positiv ausgefallen, obwohl die Probanden nicht immun gegen das Coronavirus sind. Zudem sei nicht klar, ob weitere Tests im Labor gemacht worden seien, die die Ergebnisse bestätigen. Man bräuchte schnell ein Manuskript, sagte Drosten weiter.
Auf Anfrage des SPIEGEL teilte Studienleiter Streeck mit: "Ich sage noch mal deutlich: Wir haben ein Zwischenergebnis präsentiert. Ich kann mich derzeit nicht zu weiteren Ergebnissen äußern. Wir arbeiten daran, das Endergebnis so schnell, aber selbstverständlich auch so verlässlich wie möglich zu präsentieren. Eines gilt für mich als Wissenschaftler immer, auch in Zeiten wie diesen: Gründlichkeit vor Schnelligkeit." Die Forscher hätten sich viel mit Antikörpern beschäftigt und auch antikörperbasierte Schnelltests evaluiert. "Auch dieses Wissen wird in das Endergebnis einfließen."
Wie viel PR steckt in der Studie?
Kritik gegen die Heinsberg-Studie richtet sich auch gegen die opulente Begleitung in sozialen Medien. Unter der Überschrift "Heinsberg-Protokoll" dokumentieren zehn Mitarbeiter der PR-Firma Storymachine, die von Ex-"Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann mitgegründet wurde, die Arbeit der Wissenschaftler im Kreis Heinsberg.
Normalerweise schweigt sich Storymachine über ihre Kunden aus, im Fall Heinsberg machen sie nun eine Ausnahme. "Es handelt sich um eine Eigeninitiative von Storymachine - ein Teil der Kosten wird von Partnern dankenswerterweise übernommen", sagte Agenturchef Philipp Jessen dem Medienportal "Meedia". Weder der Staat noch die Universität Bonn, an der Streeck arbeitet, würden das Projekt mitfinanzieren.
Die SPD im NRW-Landtag hatte eine Kleine Anfrage gestellt, wie die Zusammenarbeit zustande gekommen ist und wer für die Dokumentation bezahlt. In der Antwort heißt es, die Landesregierung unterstütze die Studie mit 65.315 Euro. Mit dem Geld würden Tests und die studentischen Hilfskräfte bezahlt. Wer Storymachine den Auftrag für die Dokumentation gegeben habe, könne die Landesregierung nicht sagen. Auch Ministerpräsident Laschet betonte, dass Nordrhein-Westfalen kein Geld für PR-Maßnahmen gezahlt habe.
Doch kein Anlass für Lockerungen des Shutdowns?
Die Diskussion über die Aussagekraft der Heinsberg-Studie wirft die Frage auf, ob eine Lockerung des Lockdowns nach Ostern nun aus wissenschaftlicher Sicht unverantwortlich wäre. Allerdings sind die Forscher um Streeck längst nicht die einzigen, die schrittweise und kontrollierte Lockerungen für möglich halten.
Laut einer Analyse Göttinger Forscher waren die Kontaktsperren, die am 22. März beschlossen wurden, offenbar entscheidend, um das exponentielle Wachstum des Virus zu stoppen. Die Schließung von Schulen, Geschäften und die Absage von Großveranstaltungen allein hätten dafür sehr wahrscheinlich nicht ausgereicht. Wenn die Kontaktsperren noch etwa zwei Wochen eingehalten werden, halten die Wissenschaftler eine allmähliche Lockerung für möglich.
Auf die Frage, ob er die Auffassung teile, dass die Ergebnisse aus Heinsberg keinen Anlass für Lockerungen lieferten, teilte Streeck mit: "Das muss natürlich schlussendlich die Politik entscheiden. Wir liefern Daten und Fakten. Sicher ist: Wir haben gelernt, wie wir uns hygienisch richtig verhalten. Das ist eine wichtige Voraussetzung, die es ermöglichen kann, in Phase 2 einzutreten, nämlich einer beginnenden Rücknahme der Quarantänisierung bei gleichzeitiger Sicherung der hygienischen Rahmenbedingungen und Verhaltensweisen." Zudem habe es zu keinem Zeitpunkt politische Einflussnahme auf die Studie gegeben.
Tatsächlich stammt das Szenario für einen möglichen Ausstieg aus dem Lockdown, der bei der Präsentation der Heinsberg-Zwischenergebnisse im Gespräch war, nicht von Virologe Streeck, wie er auch selbst gesagt hatte. Es wurde schon vor gut eineinhalb Wochen von Hygieneexperten vorgeschlagen, darunter auch der Hygieneprofessor Martin Exner, der bei der Pressekonferenz zu Heinsberg ebenfalls dabei war.