Corona-Krise: Warum Vorhersagen zu Wirtschaft und Börse kaum möglich sind
Die Halbwertzeit von ökonomischen Prognosen ist in der Coronakrise so kurz wie nie. Belastbare Vorhersagen zum Wirtschaftswachstum oder den Börsenkursen sind kaum möglich.
Der beste Kommentar zu den neuen US-Arbeitslosenzahlen kommt von einem kleinen Mädchen mit Wuschelhaar im babyrosa Sweatshirt: Das Kind sitzt auf dem Teppich und knabbert an einem zerknüllten Blatt Papier, das mit Zahlenreihen bedruckt ist. "(Das Softwareprogramm, Anm. d. Red.) STATA intern verarbeitet Deine ökonomische Prognose", schreibt der Arbeitsmarktexperte Mark Price zu dem von ihm getwitterten Foto, das wohl seine Tochter bei der Arbeit im Home Office zeigt. Ein Scherz, aber ziemlich passend.
Viele Vorhersagen zur Konjunktur enden derzeit zerknüllt im Papierkorb. Auch diese Woche lagen die Ökonomen bei den Daten zum Arbeitsmarkt wieder falsch: Mit fünf Millionen neuen Anträgen auf staatliche Unterstützung hatten sie gerechnet, tatsächlich meldeten sich weitere 6,6 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner arbeitslos. Gleichzeitig musste die Regierung ihre Zahlen für die Vorwoche nach oben korrigieren, so dass nun klar sind: Binnen drei Wochen haben mehr als 16 Millionen Menschen ihren Job verloren.
Immer schlimmere Szenarien
Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen - wohl nie zuvor beschrieb das geflügelte Wort die Lage der professionellen Wirtschaftsauguren besser. Die Erstellung von Vorhersagen beruhe zu einem erheblichen Teil auf "Geschichte", sagt Torsten Slok, Chefökonom von Deutsche Bank Securities in New York. So lässt sich am Verlauf der Depression der Dreißigerjahre oder der Finanzkrise 2008 studieren, wie sich eine Rezession allmählich durch die Wirtschaft frisst. Das jüngste Job-Massaker in der Coronavirus-Krise aber hat keine Vorbilder. "Einen derartigen Jobverlust in so kurzer Zeit haben wir noch nie in der jüngeren Geschichte gesehen", erklärt Slok die Fehlprognosen der Zunft. "Wir hatten einfach keine Frühindikatoren, mit denen wir arbeiten konnten."
Die Pandemie hat die meisten Ökonomen genauso kalt erwischt wie die Regierungen und Börsianer. Viele, die noch vor zwei Monaten glaubten, dass Covid-19 allenfalls eine Delle im längsten Aufschwung der US-Geschichte verursachen würde, sind inzwischen mit Schreckensszenarien unterwegs. Und in immer kürzeren Abständen werden die Prognosen immer düsterer. Noch Mitte März rechnete der US-Chefökonom von JP Morgan Chase, Michael Feroli, mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im zweiten Quartal von 14 Prozent. Ende des Monats war Feroli dann schon bei minus 25 Prozent. Sein Chef, CEO Jamie Dimon, setzte noch einen drauf und unkte in seinem jährlichen Aktionärsbrief von einem 35-prozentigen Absturz. Derweil geht das "Nowcast"-Statistikmodell der Federal Reserve Bank von New York von einem minimalen Minus im Quartal von 0,4 Prozent aus.
Wie ist eine solche Bandbreite möglich? Normalerweise würden alle Experten mit dem etwa gleichen statistischen Modell arbeiten, sagt Slok: "Auf der linken Seite steht, was wir vorhersagen wollen, auf der rechten Seite stehen die Variablen." Verändert sich eine Variable - wenn zum Beispiel der Auftragseingang der Unternehmen sinkt - ändert sich auch die Prognose. Doch der Schock der Coronakrise schlug für dieses Verfahren zu plötzlich und umfassend durch. "Wir haben nichts, was wir in unseren Modellen quantifizierbar auf der rechten Seite eintragen können", sagt Slok.
Daten aus Flughäfen, Einkaufszentren, Restaurants
Vielen Experten ist klar, dass ihre Vorhersagen derzeit wenig belastbar sind. Auch der JP-Morgan-Experte Feroli versah seine Zahlen mit dem Warnhinweis, dass man derzeit das Phänomen der "Knightschen Unsicherheit" erlebe, ein Umfeld, in dem die Zukunft so offen ist, dass sich Risiken nicht mehr quantifizieren lassen. Die Notenbank Fed hat die Konsequenz gezogen und bei ihrer letzten Sitzung auf den üblichen vierteljährigen Ausblick ganz verzichtet. Die wirtschaftliche Zukunft hänge davon ab, wie sich das Virus ausbreite, was dagegen unternommen werde und wie lange die Seuche dauern werde, begründete Fed-Chef Jerome Powell den Schritt: "Das ist nichts, was man wissen kann."
Anders als die Fed fordern die Beobachter der Konjunktur und der Börsen das Prognoseschicksal trotzdem heraus. Nicht nur, weil sie es so gelernt haben, sondern auch weil ihre Klientel es verlangt. Die Öffentlichkeit will wissen, wie schlimm es wird. Die Politik braucht eine Grundlage, um Milliarden-Hilfspakete kalkulieren und beschließen zu können.
Um weiterhin liefern zu können, setzen Ökonomen auf unorthodoxe Analysemethoden. Slok zum Beispiel hat sich angesehen, wie viel Passagiere an einem Tag im März an den Sicherheitsschleusen der amerikanischen Flughäfen den Pass vorzeigten (normalerweise rund zwei Millionen, plötzlich nur ein Zehntel so viel). Er durchforstete Zahlen zum Publikumsverkehr in Einkaufszentren und Restaurantbuchungen auf dem Reservierungsportal Open Table (minus 100 Prozent). Seine Kollegen betrachten Satellitenbilder zum Verkehrsaufkommen oder verfolgen Staus auf dem Tomtom-Navigationssystem. Andere werden zu Amateur-Epidemiologen und studieren den Verlauf der Spanischen Grippe 2018 im Detail. Aus solchen Puzzlesteinen setzen sie ein Bild der Konjunkturlage zusammen. Aber: "Wir haben einen begrenzten Instrumentenkasten", räumt Slok ein.
Schlimm, schlimmer - oder am schlimmsten
Als noch kniffeliger erweisen sich die Kursprognosen für die Börsen, die seit Ausbruch der Krise wild schwanken. Ist das Ärgste vorbei? "Die Vorhersagen gehen querbeet", sagte Michael Antonelli, Strategist bei der Investmentbank Baird, dem Finanznachrichtendienst Bloomberg. Letztlich sei es wie "beim Werfen eines Dartpfeils". Jeder, der behaupte, eine Prognose zu haben, die für Investitionsentscheidungen tauge, sei "schlicht nicht glaubwürdig", warnt auch Albert Cheung, Forschungschef von Bloombergs Energiesparte BNEF. Cheung ist dazu übergangen, nur noch Szenarien zu entwerfen, die davon abhängen, wie sich die Pandemie entwickelt. Also: schlimm, schlimmer oder am schlimmsten.