Corona-Krise und ihre Folgen: Die neue digitale Elite
Arbeit, Bildung, Wirtschaft, Sozialleben: Die Coronakrise beschleunigt die Digitalisierung wichtiger Gesellschaftsbereiche. Die Strukturen, die gerade wachsen, werfen auch neue Gerechtigkeitsfragen auf.
Es ist ein sonniger Aprilmorgen im Jahr 2020. Während sich ein Virus, für das es noch keinen Impfstoff gibt, weiter auf der Welt ausbreitet, startet eine ganz normale mittelständische Familie in den Tag.
Gegen 9 Uhr, nach ihrem Zumba-Kurs auf Zoom, setzt sich Mutter Kim, 36, an den PC und arbeitet bis zur Skype-Konferenz um 11 Uhr erste Aufträge ab. Tochter Mia, 11, beugt sich am Küchentisch übers Tablet und löst Rechenaufgaben in der E-Learning-App Flipgrid. Vater Jeff, 41, ein zurzeit arbeitsloser Fabrikarbeiter, durchsucht eine Online-Jobbörse, die Fachkräfte temporär zwischen Firmen vermittelt.
Mittags bestellt die Familie Pasta in einer nahegelegenen Geisterküche. Nachmittags entleiht Mia Bücher aus einer Online-Bibliothek, momentan ist das gratis. Kim bestellt Lebensmittel für ihre betagten Eltern im Online-Supermarkt. Jeff unterschreibt einen Antrag auf Arbeitslosenhilfe per E-Unterschrift. Abends trifft er sich mit Freunden in einer Online-Bar.
Die fiktive Mittelstandsfamilie könnte aus Asien, Nordamerika oder Europa stammen. Seit die Corona-Pandemie das öffentliche Leben lähmt, beschleunigt sich in vielen Ländern die Digitalisierung wichtiger Gesellschaftsbereiche. Arbeit, Schule und viele weitere Aktivitäten, bei denen physische Anwesenheit bislang weitgehend Pflicht zu sein schien, verlagern sich abrupt in den virtuellen Raum - mit dem Ziel, das bisherige Leben trotz sozialer Distanzierung möglichst gut weiterzuführen.
Vieles, mit dem gerade experimentiert wird, dürfte der Gesellschaft nach der Krise erhalten bleiben, in Form neuer emotionaler Verknüpfungen, Verhaltensmuster, kultureller Normen und technoökonomischer Strukturen. Zusammen mit diesen entstehen auch neue Probleme, Abhängigkeiten und soziale Ungleichgewichte.
Es scheint ratsam, den Problemen früh zu begegnen, um einer noch stärkeren Elitenbildung entgegenzuwirken. Ebenso ratsam scheint es, die positiven Aspekte des Wandels nach der Krise zu erhalten und auszubauen - denn sie können unsere Gesellschaft ein Stück voranbringen.
Ein Blick auf vier Megatrends, die sich gerade abzeichnen.
1. Wirtschaft: Mehr Knopfdruck-Kapitalismus
Er würde nie sagen, sein Unternehmen profitiere von einer globalen Gesundheitskrise, sagte Jim Collins, Chef von Kitchen United, Anfang März im Interview mit "Yahoo Finance". Es zählt aber definitiv zu den Gewinnern der Pandemie. Kitchen United betreibt in mehreren US-Großstädten sogenannte Geisterküchen: Kochplätze, von denen aus Küchenchefs Anwohner mit Essen beliefern. Dazu liefert Kitchen United die Software, um Gerichte auf gängigen Lieferplattformen zu platzieren.
Die Köche, die sich bei Kitchen United einmieten, haben oft kein eigenes Restaurant. Sie setzen komplett auf Takeaway - was jetzt von Vorteil ist. Klassische Restaurantbesitzer versuchen, mit Außer-Haus-Lieferungen irgendwie noch ihre Ladenmiete zusammenzubekommen. Geisterköche haben keine Ausfälle durch leere Tische und freuen sich gerade über steigende Nachfrage.
Das Marktmodell hinter Firmen wie Kitchen United nennt sich On-Demand-Economy: Produkte und Dienstleistungen werden nach einem Tipp auf eine Smartphone-App in kurzer Zeit zum Kunden gebracht. In Zeiten von Lockdowns gehören solche Knopfdruck-Dienste zu den großen Gewinnern - besonders wenn sie menschliche Grundbedürfnisse stillen.
Lebensmittellieferanten oder Online-Apotheken verzeichnen gerade gigantische Wachstumsraten. Der oft gescholtene Amazon-Konzern wird als Versorger der Eingeschlossenen gefeiert. Dazu entstehen Plattformen, die anzeigen, in welchen Supermärkten gerade Klopapier, Nudeln und andere begehrte Waren verfügbar sind. Und Online-Marktplätze, die es auch kleinen Läden leicht machen, ihre Waren verstärkt im Netz zu verkaufen.
Auf Kaliforniens Straßen werden - auch dank der Kontaktverbote - gerade die ersten autonomen Lieferfahrzeuge getestet. Menschliche Fahrer sind ein großer Kostenfaktor für viele On-Demand- und E-Commerce-Dienste. Fiele er weg, würde ihre Wettbewerbsfähigkeit noch einmal massiv steigen.
Für die Wirtschaft von morgen hätte das nicht nur Vorteile. On-Demand-Firmen beschäftigen teils prekäre Solo-Selbstständige - ohne Tariflohn, Arbeits- und Gesundheitsschutz. Auch das Ladensterben im stationären Einzelhandel dürfte sich nach einer Analyse des Kölner Instituts für Handelsforschung beschleunigen, weil sich die Kaufgewohnheiten der Kunden schneller in Richtung E-Commerce verschieben.
Die Digitalisierung der Wirtschaft steigert also nicht nur die Produktivität. Sie schafft auch Probleme, auf die Raumplaner und Sozialbehörden erst noch passgenaue Antworten finden müssen.
2. Bildung: Mehr interaktiver Lernstoff
Ein normaler Unterrichtstag für eine sechste Klasse an der ICS International School in Mailand sieht derzeit so aus: Pünktlich um 8.30 Uhr loggen sich Schülerinnen und Schüler über die Chat-Plattform Teams und das soziale Lernnetzwerk Edmodo zum Unterricht ein. Es gibt Frontalunterricht per Videochat, Gruppenarbeiten in kleineren Chat-Räumen und Einzel-Chats zwischen Schüler und Lehrer.
Die Tagesstruktur aus der Offline-Welt ist weitgehend erhalten geblieben, inklusive Pausen. Auch den Unterrichtsablauf versucht die ICS so gut es geht an die Offline-Welt anzugleichen. Unterrichtsstunden werden nicht aufgezeichnet, da Präsenzpflicht herrscht. Hausaufgaben, zum Beispiel Lösungswege von Matheformeln, werden teils per Video eingereicht, handschriftliche Aufgaben per Foto.
Die ICS gilt inzwischen als Vorbild für effektives Online-Lernen. Schulen in Frankreich und Spanien haben das Modell aus Mailand übernommen. In Zeiten der Lockdowns sind funktionierende Strategien zum Lernen aus der Ferne begehrt.
Nach Schätzungen der OECD waren Mitte März rund 421 Millionen Kinder und Jugendliche von Schulschließungen betroffen. In mehr als 60 Ländern fiel der Unterricht landesweit oder regional aus. Die meisten Schulen versuchen, Kindern wenigstens einen Teil des Stoffs per Online-Unterricht zu vermitteln.
Es gibt Dutzende Ed-Tech-Angebote, mit denen vermehrt experimentiert wird: Online-Klassenräume von Firmen wie Google oder WizIQ; Lern-Animationen von Firmen wie BrainPop; Kollaborations-Apps zum Teilen von Hausaufgaben wie Seesaw; Multimedia-Software wie Panopto, mit der man interaktive Quiz-Formate in Videovorträge integrieren kann.
Die Qualität der Programme schwankt, ebenso die Kompetenz der Lehrer und Schüler, mit der neuen Technik umzugehen. Dennoch verdeutlicht die Coronakrise Möglichkeiten und Chancen des E-Learnings. Klassische didaktische Konzepte können durch moderne Technik bereichert werden. Multimediaexperten und Profis aus der Unterhaltungsindustrie können helfen, Lernstoff zeitgemäß aufzubereiten.
Komplett ersetzen wird E-Learning den Gang zur Schule nicht - allein schon, weil Schulen berufstätige Eltern auch bei der Betreuung ihrer Kinder entlasten. Eine intelligente Kombination aus Präsenz- und Fernunterricht aber ist auch nach Ende der Lockdowns denkbar.
Darin steckt allerdings auch die Gefahr, dass Kinder im Unterricht benachteiligt werden. Zum Beispiel, weil sie technisch wenig begabte Eltern haben. Oder weil sie aus Haushalten stammen, die sich weder Rechner noch Breitbandverbindung leisten können. Solche Schüler brauchen frühzeitig Unterstützung.
3. Arbeitsalltag: Mehr Flexibilität
Der wohl offensichtlichste Strukturwandel der Coronakrise ist, dass plötzlich Millionen Menschen aus dem Homeoffice arbeiten. Der Geschwindigkeit dieser Umstellung nach zu urteilen, scheint das Homeoffice wie eine tief hängende, überreife Frucht zu sein: Sie lässt sich leicht ernten, man muss es nur tun.
Die technischen Bedenken wider Homeoffice-Arbeitsplätze entpuppen sich gerade in vielen Fällen als Vorwände. Das Problem scheint weniger die Einrichtung einer VPN-Verbindung gewesen zu sein - sondern eher der vermeintliche Kontrollverlust des Arbeitgebers über seine Mitarbeiter. Jetzt, da Homeoffice-Arbeit oft alternativlos ist, hat plötzlich Mitarbeiter-Tracking Konjunktur.
Unternehmen wie Interguard, Activetrack, Vericlock oder Time Doctor haben ihre Absätze laut "Süddeutscher Zeitung" in den vergangenen Wochen teils verdreifacht. Ihre Software erlaubt es Chefs unter anderem, Tastatureingaben von Angestellten zu protokollieren. Oder die von ihnen besuchten Webseiten. Oder in regelmäßigen Abständen einen Screenshot der Bildschirmoberfläche zu machen.
Neben solch bedenklichen Eingriffen in die Privatsphäre werden steuerrechtliche Reformen zum Absetzen eines häuslichen Arbeitszimmers diskutiert. Und Verhaltenstipps, wie man zu Hause produktiv bleibt. Und Ratschläge für Führungskräfte, wie man örtlich verstreute Teams koordiniert. Viele scheinen davon auszugehen, dass das Homeoffice nach Ende der Lockdowns in ihrer Firma als zusätzliche Arbeitsumgebung etabliert sein wird.
Menschen, die ihre Arbeit nicht von zu Hause aus erledigen können, haben gleich doppelt das Nachsehen. Sie verdienen momentan teils gar kein Geld und bleiben auch nach der Krise weniger flexibel.Arbeitsrechtlicher und sozialstaatlicher Ausgleich scheint nötig, um einer verstärkten digitalen Spaltung der Arbeitswelt vorzubeugen.