Corona-Krise: Schulen öffnen, Kitas bleiben geschlossen — «Das ist doch Wahnsinn»
Während die Schulen bald schrittweise wieder öffnen, müssen kleine Kinder weiterhin zu Hause bleiben - wahrscheinlich sogar für Monate. Viele Eltern fühlen sich von der Politik alleingelassen.
Alle paar Stunden feiert Leo ein bisschen Geburtstag. Dann steht der Dreijährige auf einem Hocker im heimischen Badezimmer, die kleinen Hände über den Rand des Waschbeckens in den Wasserstrahl gestreckt - und singt: "Happy Birthday to you", nicht zu schnell natürlich, so hat es Leo gelernt.
"Die neuen Hygieneregeln hat er sehr schnell verinnerlicht", sagt seine Mutter Aiga Senftleben, die diese Anekdote am Telefon erzählt: Regelmäßiges Händewaschen, mindestens 20 Sekunden lang und immer mit Seife. "Das haben sie in der Kita gelernt - vor mehr als vier Wochen."
Seit dem 17. März darf Leo seine Kita nicht mehr besuchen. Wie insgesamt 3,7 Millionen Kinder deutschlandweit - ausgenommen solche, die Anspruch auf Notbetreuung haben - muss er in diesen Tagen zu Hause bleiben, damit sich das neuartige Coronavirus nicht so schnell verbreiten kann.
Die Tage verbringt Leo nun in einer Berliner Etagenwohnung, unterbrochen von täglichen Spaziergängen um den Block mit seinen Eltern, die beide aus dem Homeoffice arbeiten und sich abwechselnd um den Dreijährigen kümmern. "Auch wenn er es toll findet, dass Mama und Papa nun immer da sind - er vermisst seine Freunde", sagt Aiga Senftleben. Erwachsene, auch wenn sie sich noch so viel Mühe geben, könnten das Herumtoben und Quatschmachen mit Gleichaltrigen nicht ersetzen.
Keine kreativen Lösungen für Kitas
So, wie es aktuell aussieht, wird das noch ziemlich lange so weitergehen. Ab dem 4. Mai, so haben es die Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten in ihrer Telefonrunde entschieden, sollen die Schulen flächendeckend wieder öffnen. Viele Bundesländer starten zum Teil sogar deutlich früher, um ihre Abschlussklassen durch die finalen Prüfungen zu lotsen.
Die Kitas hingegen sollen in den meisten Ländern noch viele Wochen geschlossen bleiben. In Berlin, wo Aiga Senftleben mit ihrer Familie wohnt, soll der Regelbetrieb erst wieder am 1. August beginnen - also in mehr als drei Monaten. "Das ist doch Wahnsinn", sagt Senftleben, Mitgründerin eines Fintech-Start-ups. Sie fühle sich von der Politik "veräppelt", so drückt sie es aus. "Überall werden kreative Lösungen gefunden, wie man die Lage für alle Beteiligten gut gestalten kann: Für Schulen, für Buchläden und Baumärkte - aber die Kitas lässt man einfach zu, ohne Kompromiss."
Eltern fühlen sich alleingelassen
Senftleben spricht aus, was viele Eltern in diesen Tagen denken. Sie fühlen sich alleingelassen mit dem Spagat zwischen Kinderbetreuung und Arbeit - und mit dem Gefühl, ihren Kindern etwas vorzuenthalten, das viele so sehr vermissen: den Kontakt zu Gleichaltrigen.
"Das geht an der Lebenswirklichkeit junger Familien vorbei", sagt Ulrike Große-Röthig, Rechtsanwältin und Bundeselternsprecherin der Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege. "Und es stürzt auch Arbeitgeber in ein Dilemma, die nicht bis in den Spätsommer oder frühen Herbst hinein auf ihre Mitarbeiter verzichten können."
Wenn das öffentliche Leben sukzessive wieder belebter würde und Geschäfte öffneten, könnten die Angestellten nicht einfach zu Hause bleiben. Besonders Alleinerziehende hätten damit schwer zu kämpfen, weil sie sich die Kinderbetreuung nicht mit einem Partner teilen können.
Wissenschaftler fordern Corona-Elterngeld
Die Regelung treffe zudem insbesondere Menschen Mitte 20 bis Mitte 40 - "die also in den meisten Fällen nicht zur Risikogruppe gehören und an ihren Arbeitsstätten gebraucht werden". Gleichzeitig könnten viele aber auch keinen unbezahlten Urlaub nehmen. "Weniger zu arbeiten, um Kinder zu betreuen, muss man sich leisten können."
Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) fordern deshalb eine Art Corona-Elterngeld. In einer Mitteilung sprachen sich die Forscher dafür aus, dass "Alleinerziehende sowie Familien, in denen beide Eltern gemeinsam mehr als 40 Stunden arbeiten, jeweils eine Reduzierung der individuellen Arbeitszeit zur Kinderbetreuung beim Arbeitgeber beantragen und dafür einen staatlichen Einkommensersatz erhalten" können.
Kita als Bildungsort
Elternsprecherin Große-Röthig ärgert sich darüber, dass die Verantwortlichen sich offenbar nicht einmal die Mühe machten, über Alternativen zur konsequenten Schließung zu beraten: Etwa kleine Bezugsgruppen von einer Handvoll Kinder, die streng getrennt voneinander spielen könnten. Oder eine Art "Schichtsystem", wie Experten es auch für Schulen vorgeschlagen hatten und viele Firmen praktizieren.
Zudem hätten Wissenschaftler und Politik auch darauf schauen müssen, dass Kinder die Kita als Bildungsort dringend benötigten, vor allem wenn sie aus bildungsbenachteiligten Haushalten stammen - weil Eltern zu Hause oft nicht ausreichend gut fördern könnten. "Die Kita dient ja nicht nur der Aufbewahrung."
Fachleute fordern deshalb, auch Kinder aus Familien in schwierigen Situationen wenigstens in die Notbetreuung aufzunehmen. "Ich denke zum Beispiel an Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil oder mit Behinderung", sagt Björn Köhler vom Vorstand der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Ausweitung der Notbetreuung
In einer Telefonschalte mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) einigten sich an diesem Freitag die Familienminister der Länder nun darauf, die Notbetreuung bis zum 3. Mai auszuweiten. Wie das jedoch im Detail aussehen soll, regelt jedes Land für sich - obwohl Giffey im Vorfeld auf eine einheitliche Regel gedrängt hatte.
Bisher gilt das Angebot in der Regel für Kinder ab dem Kita-Alter bis zur sechsten Klasse, wenn die Eltern dringend an ihrem Arbeitsplatz gebraucht werden - etwa in der Pflege, in Krankenhäusern aber auch in der Produktion bestimmter Güter oder bei der Polizei.
Viele Landesregierungen haben schon vor Wochen angekündigt, weitere Berufsgruppen und Alleinerziehende einzubeziehen oder die Regeln so zu lockern, dass es reicht, wenn ein Elternteil in einem sogenannten systemrelevanten Beruf arbeitet.