Corona-Krise: Continental-Chef Elmar Degenhart warnt vor Pleitewelle bei Zulieferern
Deutschlands Autoindustrie drängt auf einen raschen Produktionsstart nach Ostern. Sonst drohe vielen Zulieferern die Pleite, warnt Continental-Chef Degenhart. Er fordert unter anderem Kaufprämien.
SPIEGEL: Herr Degenhart, seit Mitte März stehen die Werke der deutschen Autoindustrie nahezu weltweit still. Wie lange wird die Branche den Shutdown durchhalten, bis ihr das Geld ausgeht?
Degenhart: Große Zulieferer wie Continental sind besser dran als die Kleinen und die Mittelständler. Es ist sehr wichtig, dass die Regierung jetzt bei den Finanzhilfen für die kleineren Mittelständler nachgebessert hat. Für diese bürgt die Förderbank KfW mittlerweile für 100 Prozent der vergebenen Kredite. Damit kann das Geld schnell fließen. Und das ist auch notwendig. Denn wir sehen die Auswirkungen bereits. Es gibt erste Einschläge.
SPIEGEL: Wie sehen diese Einschläge aus?
Degenhart: Wir achten ständig darauf, ob unsere Lieferanten finanziell flüssig sind, oder ob sie in Verschuldungsnot geraten. In normalen Zeiten haben wir 30 bis 50 Lieferanten unter engerer Beobachtung, etwa zehn Prozent davon sind akut gefährdet. Die Zahl der Lieferanten, die wir enger beobachten, hat sich seit Ausbruch der Coronakrise verdoppelt. Und ich gehe davon aus, dass sie noch weiter steigen wird. Bisher haben wir nur den Auftakt der Krise gesehen, das zweite und dritte Quartal dürften erheblich schwieriger werden. Noch erhält die Zulieferindustrie Zuflüsse aus Geschäften, die sie bereits zu Jahresbeginn abgeschlossen hat. Aber Ende April und spätestens im Mai versiegt dieser Cash-Zustrom. Je länger der Shutdown also anhält, desto gravierender werden die Auswirkungen auf die Liquidität sein.
SPIEGEL: Was tut Continental, um finanziell flüssig zu bleiben?
Degenhart: Bilanziell sind wir glücklicherweise sehr robust aufgestellt. Uns bleibt aber wie jedem anderen nichts anderes übrig, als heftig auf die Kostenbremse zu treten und weniger zu investieren. Das bedeutet, dass Aufträge von heute auf morgen auf Eis gelegt oder storniert werden. Darunter leiden dann unsere Sublieferanten, die ebenfalls sparen müssen, und der Maschinenbau, der massiv von der Autoindustrie abhängt. Der Shutdown löst also eine negative Kettenreaktion in der ganzen Branche und darüber hinaus aus.
SPIEGEL: Wie lässt sich ein möglicher Kollaps der Autoindustrie verhindern?
Degenhart: Eine solche Krise, in der sowohl Angebot als auch Nachfrage über Wochen zusammengebrochen sind, haben wir noch nie erlebt. Sie ist auch nicht vergleichbar mit der Finanzkrise von 2009. Die Auswirkungen sind potenziell wesentlich dramatischer. Deshalb plädieren wir dafür, dass zumindest der Industrie jetzt bald erlaubt wird, wieder zu starten. Denn wenn die Autoindustrie nach Ostern nicht bald wieder hochlaufen kann, droht vielen und insbesondere vielen kleineren Zulieferern die Pleite. Schlimmstenfalls wird das internationale Produktionsnetz, von dem die ganze Autoindustrie abhängt, tiefgreifend und nachhaltig beeinträchtigt, mit verheerenden Folgen für die Konjunktur. Das Schreckensszenario ist, dass Europa nach drei, vier Monaten Stillstand in eine Stagflation rutscht, eine Kombination aus Stagnation und Inflation, die über einen Zeitraum von mehreren Jahren massiv Firmen- und Privatvermögen vernichten würde.
SPIEGEL: Warum sollten die Zulieferer aus Ihrer Sicht früher mit der Produktion beginnen dürfen als die Hersteller?
Degenhart: Wir brauchen mindestens eine Woche Vorlauf, bis auch die Hersteller wieder produzieren können. Der ganze Hochlauf der Industrie ist unglaublich kompliziert, so etwas haben wir in diesem Ausmaß noch nie gemacht. Allein Continental hat im Automobilbereich weltweit mehr als 2300 Zulieferer, die wir koordinieren müssen. Damit die Lieferketten wieder funktionieren, müssen im Prinzip alle gleichzeitig zum Hochlauf bereit sein. Wenn nur ein paar Zulieferer ausfallen, weil sie insolvent sind oder keine Erlaubnis zur Produktion haben, kriegen wir erhebliche Schwierigkeiten, dann haben auch unsere Kunden ein Problem.
SPIEGEL: Am Mittwoch vergangener Woche haben Vertreter der deutschen Automobilindustrie mit der Kanzlerin telefoniert. Konnte sie Ihnen Hoffnungen auf einen baldigen Neustart machen?
Degenhart: Nein, wir haben noch keine Hinweise bekommen, dass die ganze Maschinerie in absehbarer Zeit wieder hochfahren kann. Ich sehe natürlich ein, dass das schwierig ist. Gleichzeitig brauchen wir als Industrie aber auch Planungssicherheit. Ohne ein konkretes Datum ist es für uns schwer, die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Als Industrie haben wir die Verantwortung, die Regierung darauf hinzuweisen, wo für uns die Grenzen des Shutdowns liegen - und in welch schwieriger Situation wir ohnehin schon sind. Bereits seit Mitte 2018 befindet sich die Autoindustrie weltweit in einer Rezession. In Deutschland ist das bislang noch nicht so recht aufgefallen, weil hier die Hersteller – insbesondere im Premiumbereich – immer noch gute Geschäfte gemacht haben. Alleine im vergangenen Jahr hat die Industrie weltweit rund sechs Prozent des Produktionsvolumens verloren, und es wird dieses Jahr nochmal deutlich drastischer nach unten gehen.
SPIEGEL: Der Politik fällt es verständlicherweise schwer, eine Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und dem Wohl der Wirtschaft zu treffen.
Degenhart: Wirtschaftliche Stabilität und Gesundheit darf man nicht gegeneinander ausspielen. Beides muss möglich sein, denn beides bedingt sich gegenseitig! Damit wir uns ein gutes Gesundheitssystem leisten können, brauchen wir eine starke Wirtschaft. Doch unsere Wirtschaftskraft wird immer weiter geschwächt. Nach Ostern werden wir bereits sechs Wochen Shutdown hinter uns haben. Allerspätestens nach zehn bis zwölf Wochen Stillstand ergäben sich aus meiner Sicht enorme wirtschaftliche Kollateralschäden. Sie würden in unserem Sozialsystem weitaus größere Schäden nach sich ziehen, als sich aus den Risiken des Coronavirus ergeben. Zumal wir in der Autoindustrie derzeit alles dafür tun, unseren Mitarbeitern maximalen Gesundheitsschutz zu bieten.
SPIEGEL: Welche Schutzmaßnahmen ergreifen Sie derzeit?
Degenhart: Seit zwei Wochen definieren wir geeignete Schutzmaßnahmen für den Hochlauf. Ziel ist, unseren Mitarbeitern am Arbeitsplatz mindestens einen vergleichbaren Schutz zu bieten, wie er im Privatleben möglich ist. Hierfür führen wir Gefährdungsanalysen aller Arbeitsplätze durch. Der Einsatz von Schutzmaßnahmen wie zum Beispiel Plexiglas-Abtrennungen und die Verwendung unterschiedlicher Maskentypen erfolgt auf Basis der Risikobewertung des jeweiligen Arbeitsplatzes. Gemäß dieser Bewertung setzen wir auf Mehrweg-Mund- und Nasenschutz oder chirurgische Einwegmasken bis hin zu sogenannten FFP2-Masken. Wir wollen unsere dauerhafte Versorgung mit chirurgischen Masken durch eine Eigenproduktion sichern. Wir haben dafür bereits ein Projekt gestartet. Zusätzlich haben wir eine medizinische Hotline in vielen Sprachen freigeschaltet. Wir glauben übrigens, dass die Bundesregierung nicht umhinkommt, in der Öffentlichkeit flächendeckend einen Mundschutz vorzuschreiben, ähnlich wie Österreich das bereits betreibt. Das Virus wird uns aller Voraussicht nach noch mindestens ein Jahr begleiten. Wir werden lernen müssen, mit dem Virus zu leben – im Berufsalltag und in der Öffentlichkeit – und uns bestmöglich davor schützen.
SPIEGEL: Ob der Neustart der Industrie tatsächlich gelingt, hängt auch davon ab, wie die Staatschefs in Europa ihn unterstützen. Momentan ergreift jedes Land jedoch eigene Krisenmaßnahmen. Die Grenzen sind zu, zumindest für den Personenverkehr. Wie soll da ein koordinierter Wiederanlauf gelingen?
Degenhart: Wenn wir es nicht schaffen, die Grenzen möglichst bald für den Güterverkehr wieder aufzumachen, dann wird ein Hochfahren nicht möglich sein. Das ist eine der Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um effizient, länderübergreifend die Industrie wieder in Fahrt zu bringen. Außerdem ist es entscheidend, dass die Unternehmen in allen Ländern Europas, Asiens und in Amerika die Produktion mehr oder weniger gleichzeitig beginnen dürfen. Allein in Italien sitzen etwa 2200 Automobilzulieferer. Wenn die weiterhin stillstehen, kann auch der Hochlauf in Deutschland nicht gelingen. Um das zu verhindern, müssten wir die Italiener allerdings auch besser mitnehmen.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Degenhart: Notleidende Volkswirtschaften wie Italien, Griechenland oder Spanien sind erheblich schlechter aufgestellt als Deutschland. Wir könnten uns viel größere Hilfen für diese Länder leisten. Deswegen sind faire Hilfsprogramme auch in Europa dringend erforderlich. Wenn wir das nicht schaffen, wofür braucht man dann Europa überhaupt noch? Wir sind eine Gemeinschaft, von der insbesondere wir Deutschen mit unserer Exportwirtschaft enorm profitiert haben. Daraus entsteht automatisch die Verpflichtung, dass wir auch in Krisenzeiten Risiken eingehen und der europäischen Gemeinschaft etwas zurückgeben. Dieses Zurückgeben sollte allerdings an Bedingungen geknüpft sein, zum Beispiel in Form von Strukturreformen. Die Hilfsprogramme, die momentan aufgelegt werden, reichen aller Voraussicht nach nur für zwei bis drei Monate.
SPIEGEL: Wird es in dieser prekären Lage überhaupt noch Kunden geben, die Autos kaufen?
Degenhart: Das ist aktuell eine unserer größten Herausforderungen. Es hat natürlich nur Sinn, Autos zu produzieren, wenn wieder welche gekauft werden. Die Händler sind in einer extrem schwierigen Situation, sie mussten alle Autohäuser schließen. Ich wundere mich, warum Fahrräder weiterhin ausgeliefert werden dürfen, Autos aber nicht. Die Händler haben massenweise Autos auf dem Hof stehen, die sie nicht zu Geld machen können. Denn sie bekommen sie nicht zugelassen und dürfen sie auch nicht ausliefern. Beides sollte man nach Ostern spätestens wieder erlauben.
SPIEGEL: Momentan horten die Menschen vor allem Klopapier und Nudeln. Wer sollte da ein Autohaus besuchen?
Degenhart: Wir können derzeit die Kaufbereitschaft der Kunden nicht wirklich einschätzen. Auf jeden Fall wäre es von Vorteil, wenn die Hersteller, aber auch der Staat, Kaufanreize setzen würden. Man könnte Prämien für den Umtausch von Altfahrzeugen vergeben, das hätte zusätzlich einen positiven Effekt für die Umwelt. Das Durchschnittsalter für Pkw in Deutschland liegt aktuell bei etwa zehn Jahren. Darüber hinaus brauchen wir auf jeden Fall eine Entlastung auf steuerlicher Seite, für die Unternehmen, aber auch für die Privatleute. Auch auf EU-Ebene sollte es regulative Entlastungen für die Industrie geben.
SPIEGEL: 2020 gelten erstmals strengere CO2-Regeln der EU. Den Autoherstellern drohen Milliardenstrafen, wenn sie die Ziele verfehlen. Plädieren Sie für eine Lockerung?
Degenhart: Jeder Hersteller befindet sich in einer unterschiedlichen Situation, je nach Produktpalette und Stärke auf bestimmten Märkten. Es wird mit Sicherheit Hersteller geben, die wegen der Coronavirus-Krise noch mehr Schwierigkeiten haben werden, die CO2-Ziele in den Jahren 2020 und 2021 zu erreichen. Die Automobilindustrie steht voll und ganz hinter den CO2-Zielen der EU bis 2030. Ich habe Verständnis für die Überlegung, auf dem Weg dorthin einige Etappenziele zumindest zeitlich zu verschieben. Es wäre gut, wenn es für die eine oder andere EU-Regulierung eine Fristverlängerung von sechs bis 18 Monaten geben würde. Denn die Industrie wird in den nächsten Monaten einiges wieder aufholen müssen, was sie durch die Coronavirus-Krise verloren hat, gerade auch an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber China. Wir müssen wieder vor die Kurve kommen, statt jetzt in Rückstand zu geraten.