Brexit und Corona: Wie eine Krise zu einer noch größeren beitrug
Corona und der Brexit haben nichts miteinander zu tun. Oder doch? Wie die eine Krise eine noch größere in Großbritannien befeuerte.
Es ist seit vielen Tagen dasselbe Ritual. Jeden Nachmittag um 17 Uhr tritt ein Minister aus der Regierung ihrer Majestät in einen holzgetäfelten Saal in 10 Downing Street, um die Nation in einer live ausgestrahlten Pressekonferenz über den Kampf gegen die Pandemie zu unterrichten.
Mal steht da der Schatzkanzler, mal der Gesundheitsminister, mal Außenminister Dominic Raab, der den erkrankten Regierungschef Boris Johnson noch eine Zeit lang vertreten wird.
Die Gesichter wechseln. Aber eines bleibt immer gleich: Am Rednerpult klebt unübersehbar die Kampfparole dieser Regierung - "Stay Home, Protect the NHS, Save Lives", Bleibt zu Hause, schützt das Gesundheitssystem, rettet Leben. Das Schild, auf dem die Worte stehen, leuchtet in gelb-roten Signalfarben, es wirkt, als stünden die Minister hinter einem Absperrband - und als sei in Downing Street mit losen Ziegeln zu rechnen.
Treffender könnte man den Zustand des Landes nicht in einem Bild zusammenfassen. Das Vereinigte Königreich ist eine Baustelle.
Aber nicht erst seit dort das Coronavirus wütet.
Die Grundsäulen des Landes beschädigt
Anders als andere Länder befanden sich Großbritannien und Nordirland schon lange vor Ausbruch der Pandemie im Ausnahmezustand. Er begann im Juni 2016, als sich eine knappe Mehrheit der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union entschied. Was folgte, war ein jahrelanger politischer Abnutzungskampf, der nach und nach die Grundsäulen des Landes beschädigte: das Parlament, die Justiz, die Wirtschaft, die Regierung. Für die Coronakrise können der Brexit, seine Befürworter und seine Gegner nichts. Aber der mehr als dreijährige Kleinkrieg ist sicher einer der Gründe, warum das Virus Großbritannien besonders hart gebeutelt hat.
Corona traf auf ein erschöpftes Land. Zur Erinnerung: Es war am 31. Januar, um Punkt 23 Uhr britischer Zeit, als das Vereinigte Königreich seine EU-Mitgliedschaft formal beendete. Am selben Tag wurden aus Yorkshire die ersten beiden Coronainfektionen auf britischem Boden gemeldet. Sie wurden in der allgemeinen Feier- bzw. Fruststimmung kaum beachtet.
Die im Dezember neu gewählte Regierung von Boris Johnson hatte zu diesem Zeitpunkt ganz andere Probleme. Der gesamte Regierungsapparat war seit Juni 2016 zu einem Brexitapparat umgebaut worden. Tausende Staatsdiener – auch aus dem Gesundheitsministerium – waren abgezogen worden, um die über Jahrzehnte gewachsene Verbindung mit der EU zu entknäueln. Mehr als 700 Beamte waren ins neu geschaffene Brexitministerium abkommandiert worden und mussten nun, da es vollbracht war, wieder umorganisiert werden.
Eine gewaltige nationale Anstrengung
Im britischen Parlament saßen seit der Wahl plötzlich zahllose unerfahrene Abgeordnete. Vor allem Johnsons konservative Partei wurde nun von vielen Neulingen vertreten – nachdem der Premier in den eigenen Reihen radikal aufgeräumt und alte, zu EU-freundliche Fahrensleute geschasst hatte.
Seine neue Regierung hatte Johnson vor allem unter einem Gesichtspunkt zusammengestellt: dass sich die Minister dem Brexit mit Haut und Haaren verschreiben. Die Zeit drängte: Die Übergangsperiode bis zum endgültigen Austritt aus der EU würde am 31. Dezember 2020 enden. Bis dahin, und nur bis dahin, müsse ein Freihandelsvertrag mit dem Staatenblock unterschriftsreif sein, so Johnson. Eine mögliche Verlängerung der Periode, in der die Briten sich weiter EU-Recht unterwerfen müssen, werde es nicht geben. Das hatte der Premier sogar gesetzlich festschreiben lassen.
Eine gewaltige nationale Anstrengung stand damit bevor. Aber weil die Regierungsmaschine nach Jahren des Brexitkampfes, nach außerplanmäßigen Wahlen, nach einer Verschiebung und noch einer Verschiebung des Austrittstermins heiß gelaufen war, gönnte Johnson sich und seinem Team im Februar wenigstens eine kleine Pause. Er selbst verschwand für eine Woche in einem Landhaus in Kent.
Das Virus aber ruhte nicht.
Der Lockdown kostet 2,4 Millionen Pfund - am Tag
Als Johnson dann am 3. März erstmals sein Krisenteam zusammenrief, um den Kampf gegen Corona zu koordinieren, war das zwei Tage, bevor auch das erschöpfte Königreich seinen ersten Todesfall meldete.
Seitdem haben sich die Verhältnisse in atemberaubender Geschwindigkeit in ihr Gegenteil verkehrt. Der gesamte Regierungsapparat kämpft nun, da die offizielle Totenzahl bei mehr als 8000 (Stand Freitag) liegt, gegen die Pandemie. Mit dem Brexit befasste Beamte wurden dafür reihenweise abkommandiert.
Nach einer Prognose des Institute for Health Metrics and Evaluation in Seattle könnte Großbritannien bis August das am schlimmsten betroffene Land in Europa sein. Die eigenen Experten der britischen Regierung rechnen damit, dass der Lockdown womöglich noch sechs Monate anhalten wird. Er kostet das Land nach Expertenberechnung 2,4 Millionen Pfund – am Tag.
Vom Brexit redet in dieser Situation fast niemand mehr. Aber er ist immer noch da.
Dass ausgerechnet Boris Johnson, als erster Staatschef weltweit, wegen einer Coronainfektion auf die Intensivstation musste, trifft das Land ins Mark. Mit Dominic Raab steht zwar ein Stellvertreter fest, aber er hat nur sehr begrenzte Befugnisse. Die Rolle des Vizepremiers ist in der ungeschriebenen britischen Verfassung nicht klar definiert. Raab selbst sagt, schwierige Entscheidungen werde das Kabinett in Johnsons Abwesenheit "kollektiv" treffen.
Im Juni muss über die Brexit-Übergangsperiode entschieden werden
Und an schwierigen Entscheidungen wird es in den kommenden Tagen und Wochen nicht mangeln. Wird der Lockdown fortgesetzt? Wie lange? Und in welchen Schritten kann wieder gelockert werden? Wie schützt man die Menschen, die in Quarantäne Missbrauch, Gewalt, Psychoterror erfahren? Und wie die Wirtschaft, die immer weiter abschmiert? Allein in den vergangenen zwei Wochen haben mehr als eine Million Briten Arbeitslosen- oder Sozialhilfe beantragt. Finanzexperten rechnen bis Ende Juni mit einem Quartalsabsturz, der sechsmal schlimmer sein wird als der schlimmste während der Finanzkrise.
Es sind dieselben Fragen, die sich alle europäischen Regierungen stellen. Aber im Falle Großbritanniens kommt hinzu: Was passiert im Juni, wenn London entscheiden muss, ob es doch eine Verlängerung der Brexit-Übergangsperiode geben muss?