«Am Ende weiß keiner, ob Corona oder der Brexit schuld war»
Großbritannien könnte das Land mit den meisten Todesopfern in Europa werden. Korrespondent Jörg Schindler erklärt im Gespräch mit Juan Moreno, warum der Kampf gegen das Virus schiefging – und was das für den Brexit bedeutet.
SPIEGEL-Korrespondent Schindler lebt seit gut drei Jahren in London. Er hat die Stadt noch nie so erlebt wie jetzt. Menschenleer, ruhig, sauber, magisch. Statt Motorenlärm sind Möwen zu hören, statt Großstadthupen das Flattern von Fahnen im Wind. Schindler läuft seit Tagen durch eine Stadt, die so noch nie jemand erlebt hat. Großbritannien ist im Lockdown, eine umfassende Ausgangssperre, deutlich restriktiver als die Maßnahmen in Deutschland. Das öffentliche Leben ist praktisch zum Erliegen gekommen.
Trotzdem: Das Vereinigte Königreich könnte das europäische Land mit den meisten Corona-Todesopfern werden. Wie kam es dazu? London entschloss sich früh einen riskanten anderen Weg zu gehen. In der neuen Folge des Auslandspodcasts "Acht Milliarden" spricht Host Juan Moreno mit SPIEGEL-Korrespondent Schindler in London. Schindler erklärt, warum Premier Boris Johnson noch bis weit in den März hinein Corona nicht ernst nahm - und warum sich einige Brexiteers über die wirtschaftlichen Verwerfungen der Corona-Pandemie sogar freuen.
Lange Zeit hatte sich Premier Boris Johnson gegen harte Maßnahmen gewehrt. Den ganzen Februar nahm er an keiner Corona-Krisensitzung teil und vertraute auf eine Studie, die sein Amtsvorgänger Tony Blair in Auftrag gegeben hatte: Großbritannien solle versuchen, mit so genannter "Herdenimmunität" durch die Krise zu kommen. Gut 60 Prozent der Briten sollten sich frühzeitig anstecken und möglichst schnell immun werden. Als eine Untersuchung des Imperial College nach einigen Wochen im britischen "Herdenimmunitäts-Experiment" mit einer Schätzung von 500000 Toten aufwartete, riss Johnson das Ruder um und schwor seine Landsleute auf eine harte Zeit ein.