Corona in Belgien: Hohe Todeszahlen — Das belgische Corona-Rätsel
In keinem Flächenstaat auf der Welt ist die Zahl der Corona-Toten im Verhältnis zur Einwohnerzahl höher als in Belgien. Die Föderalregierung gerät unter Druck. Hat sie die Pandemie unterschätzt?
Als Premierministerin Sophie Wilmès diesen Mittwoch verkündete, dass die Ausgangssperren bis 3. Mai verlängert werden, hatte sie zumindest einen kleinen Lichtblick für die elf Millionen Belgier: Gartencenter und Baumärkte dürfen wieder öffnen.
Die Coronakrise hat das kleine Königreich fest im Griff. Es gibt viele Tote: Mehr als 5000 sind es mittlerweile schon - und damit mehr als in Deutschland. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl rangiert Belgien unter den Flächenstaaten sogar auf Rang eins. Am Donnerstag hat man Spanien überholt, Italien schon vor Tagen.
Und während in den beiden großen südeuropäischen Staaten die täglichen Todeszahlen sinken, hat Belgien am Donnerstag einen neuen traurigen Rekord vermeldet: 417 Tote binnen 24 Stunden. Fast 70 Prozent der Sterbefälle wurden in Altenheimen registriert.
Dabei herrschen seit 17. März strenge Bestimmungen darüber, wer überhaupt noch auf die Straße darf. Die Stimmung, wenn man die Hauptstadt Brüssel als Beispiel nimmt, ist dennoch bislang nicht sonderlich angespannt.
Das mag an dem guten Wetter liegen, das die Belgier, seit Beginn des Lockdowns genießen – und der Tatsache, dass die chronisch verstauten Straßen und Autobahnen nun, für die, die doch mal wohin müssen, ungewohnt leer sind. Allein: Es bleibt die hohe Zahl der Toten. Das belgische Corona-Rätsel.
Die Corona-Welle begann Anfang März nach den alljährlichen Krokusferien. Viele Urlauber brachten die Infektion aus dem Skiurlaub mit, aus Norditalien, Tirol oder Frankreich. In den ersten Märztagen begannen sich die Fälle zu häufen.
Wer nach weiteren Ursachen forscht, bekommt viele Gründe aufgetischt. Manche klingen nachvollziehbar, andere weniger:
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Belgien liege in der Mitte Europas, heißt es, der Durchgangsverkehr sei vor der Krise viel höher gewesen als in anderen Ländern. London, Paris, Amsterdam, Köln – mit dem Zug ist man von Belgien aus überall in deutlich weniger als drei Stunden.
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Ein Faktor könnte auch die Luftverschmutzung sein. Die ist in Belgien hoch – wie auch in anderen Corona-Hotspots, ob Lombardei, Madrid oder New York.
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Dazu kommt die hohe Bevölkerungsdichte in dem Elf-Millionen-Einwohnerland.
All das macht Sinn, trifft aber beispielsweise auch auf das benachbarte Nordrhein-Westfalen zu, das noch dichter besiedelt ist - und nur einen Bruchteil der Toten zu vermelden hat.
Der Virologe Steven Van Gucht hat vor allem die Situation in den Pflegeheimen im Visier. Er ist Vorsitzender des nationalen wissenschaftlichen Corona-Ausschusses und in der Krise alles andere als unumstritten.
"Die Todesfälle in den Krankenhäusern sind in den letzten zwei Wochen stabil geblieben", sagte er am vergangenen Freitag, "aber in den Seniorenheimen verzeichnen wir seit April einen stetigen Anstieg". Der Grund: Belgien zählt Sterbefälle in Altenheimen offenbar oft auch zu den Corona-Toten; auch dann, wenn die Todesursache nicht klar ist.
Von den 289 Toten in Altenheimen, die am Donnerstag gemeldet wurden, konnten nur 91 eindeutig als Corona-Tote klassifiziert werden – und die übrigen gut zwei Drittel nur als mögliche Covid-19-Fälle. Es sei möglich, dass Belgien dadurch seine Todeszahlen überschätze, so Van Gucht.
So oder so sind die Zahlen erschreckend. Haben die Politik und die staatlichen Gesundheitsexperten das Virus anfangs auf die leichte Schulter genommen?
In den ersten Wochen der Pandemie wurde in Belgien wenig getestet – auch, weil es kaum Kapazitäten gab. Am 1. März entdeckte der Infektologe Herman Goossens im Krankenhaus Antwerpen den zweiten belgischen Fall: eine Frau, die vorher in Frankreich gewesen war.
"Wenn wir die strikten Richtlinien der Behörden befolgt hätten, hätten wir die zweite Patientin nicht gefunden", sagte Goossens. Zu dieser Zeit sollten nur Personen getestet werden, die aus bestimmten Hochrisikoländern kamen.
Die Verantwortlichen predigten zunächst Gelassenheit. Im schlimmsten Fall werde es 13.000 Infektionen und 700 Patienten auf Intensivstationen geben, prophezeite beispielsweise Virologe Van Gucht noch am 3. März. "Das liegt im Bereich einer schweren saisonalen Grippe", sagte er.
Als bei einem Lehrer aus dem Städtchen Wevelgem das Virus diagnostiziert wurde, riet die Gesundheits- und Pflegebehörde der Region Flandern, nicht die Schule zu schließen. Inzwischen muss sich auch die Regierung Nachfragen gefallen lassen.
15 Monate nach der letzten Wahl hat das in den flämischen Norden und wallonischen Süden gespaltene und daher chronisch unregierbare Land mit Sophie Wilmès eine nüchtern auftretende Premierministerin.
Bislang vermittelt sie den Eindruck, als wisse sie, was sie tut. Die Frage nach den hohen Totenzahlen kontert sie mit einem Verweis darauf, dass Belgien "mit größtmöglicher Transparenz" arbeite und einfach mehr Fälle melde, "einschließlich der Verdachtsfälle und ohne Ausschluss von Patienten, die an weiteren Krankheiten litten", wie sie sagt.
Als Schwachstelle haben viele Gesundheitsministerin Maggie de Block ausgemacht, eine Frau ohne viele Selbstzweifel. Zu Beginn der Lockdown-Maßnahmen kündigte die Medizinerin an, die beliebten Pommesbuden blieben selbstverständlich geöffnet. Wenig später schlossen die meisten dann genauso wie die anderen Restaurants.
In de Blocks Verantwortungsbereich fällt auch eine folgenschwere Entscheidung aus dem vergangenen Jahr, die Belgiens Politik in diesen Tagen einholt:
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Ende März wurde bekannt, dass unlängst sechs Millionen FFP2-Atemschutzmasken vernichtet wurden.
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Sie waren vor Jahren zum Schutz vor der Schweinegrippe angeschafft worden.
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Nun wurden sie gebraucht, das Verfallsdatum war aber überschritten.
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Aus Kostengründen wurde auch kein Ersatz beschafft.
Viele Krankenhäuser sind schlecht ausgestattet. Immerhin herrscht vergleichsweise viel Platz: Anders als in Bergamo, Madrid oder im Elsass gab es bislang keine großen Engpässe bei Intensivbetten oder Beatmungsgeräten.
In einigen Altenheimen hingegen ist die Lage außer Kontrolle. Wie weit sich hier das Virus verbreitet hat, zeigt der erste großangelegte Corona-Test in 85 Einrichtungen, der am Mittwoch veröffentlicht wurde. Jeder fünfte Test unter den Senioren war positiv. Entsprechend harsch ist mittlerweile die Kritik.
"Die Politik hat das Coronavirus zunächst unterschätzt und relativ lange mit Gegenmaßnahmen gewartet", sagt Dirk Rochtus, Politikwissenschaftler an der katholischen Universität Löwen. Ein Grund hierfür ist die bis vor Kurzem schwache Stellung von Premierministerin Wilmès:
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Nach den Wahlen im Mai 2019 hatten sich die Parteien auf keine mehrheitsfähige Koalition einigen können.
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Die liberale Politikerin kam schließlich im Oktober als Interimsregierungschefin einer kommissarischen Regierung ins Amt.
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Die drei Fraktionen hinter Wilmès verfügen aber zusammen nur über gut ein Viertel der Parlamentssitze.
Erst vor wenigen Wochen änderte sich das. Sechs weitere Fraktionen stellten sich hinter Wilmès – und gaben ihr Sondervollmachten zur Eindämmung der Pandemie. Damit hatte die Regierungschefin erstmals eine Mehrheit im Parlament hinter sich.