Corona-Krise: Gefährliche Stimmungsumschwung in der deutschen Bevölkerung
Bisher erdulden die Deutschen die Maßnahmen zur Corona-Eindämmung diszipliniert. Ein wöchentliches Psychogramm stellt nun eine alarmierende Veränderung fest.
Psychologen haben einen Namen für ein Phänomen, das sich für Deutschlands Krisenmanagement in Corona-Zeiten bald als große Herausforderung erweisen könnte: "Desaster Fatigue". Bezeichnet wird damit die Ermattung angesichts allzu vieler schlechter Nachrichten; das Gefühl von Verdruss, das uns gegen ein Übermaß von Katastrophenmeldungen rebellieren lässt.
Cornelia Betsch ist Psychologin an der Universität Erfurt und hat die brisante Diagnose gestellt. Woche für Woche wertet Betsch die Antworten von 1000 Befragten aus, anhand derer sie die Stimmungslage der Deutschen während der Coronakrise zu ermitteln versucht. In den ersten fünf Wochen der Krise "lief alles gut", konstatiert die Psychologin. Nun hat sie erstmals Alarmzeichen ausgemacht.
Die Auswertung der aktuellen Befragung ist beunruhigend: Langsam schwindet die Angst der Menschen vor dem grassierenden Coronavirus. Die Zuversicht, dass das Gesundheitswesen die Zahl der Covid-19-Kranken bewältigen wird, ist gewachsen. Das spiegelt sich auch in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Civey. Demnach sind 62 Prozent der Deutschen "eindeutig" oder "eher optimistisch", dass das Land gut durch die Krise kommt.
Wenn die Angst vor dem Virus schwindet, rücken die wirtschaftlichen Sorgen der Menschen in den Vordergrund. Die Akzeptanz für die staatlich verordnete Kontaktsperre, für die Schul- und Geschäftsschließungen bröckelt. Vor allem unter den Jüngeren wächst der Unmut. Sie leiden besonders unter Langeweile, Einsamkeit und Zukunftsangst.
Zunächst schien alles in Ordnung
"Wir setzen in Deutschland, anders als in vielen anderen Ländern, überwiegend auf Freiwilligkeit", sagt Betsch. "Da ist es besonders wichtig, solche Signale frühzeitig wahrzunehmen und darauf zu reagieren."
Anfang März, als klar war, dass sich die Corona-Pandemie nicht würde aufhalten lassen, beschloss Betsch, ein Psychogramm der Bevölkerung zu erstellen: Sie wollte möglichst genau die Ängste und Sorgen erfassen, mit denen die Deutschen auf das Virus und die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung reagieren würden.
Inzwischen ist COSMO, wie die in Zusammenarbeit mit dem Robert-Koch-Institut entwickelte Studie der Erfurter Psychologen heißt, zu einem wichtigen Instrument der Seuchenpolitik geworden. Stolz verweist Betsch darauf, dass sich rund 40 andere Länder weltweit die Erfurter Methode zum Vorbild genommen haben, um möglichst schnell Stimmungen im Land erfassen zu können.
Zunächst hatte COSMO vor allem Beruhigendes zu vermelden: Das Risikobewusstsein der Deutschen nahm rasch zu, sie zeigten sich gut informiert, das Verständnis für die staatlichen Maßnahmen war groß. Auch erwiesen sich viele Befürchtungen als unberechtigt oder übertrieben: "Wir stellten zum Beispiel fest, dass es die viel beklagten Corona-Partys kaum gibt. Auch Diskriminierung und Ausgrenzung sind selten", sagt Betsch.
Rebellion oder Gewöhnungseffekt?
Bei der Auswertung der sechsten COSMO-Woche jedoch zeigte sich plötzlich, dass etwas anders war: Statt zuvor 54 Prozent geben nun nur noch 45 Prozent der Befragten an, dass ihre Gedanken ständig um das Coronavirus kreisen. Hatte die Seuche in den Wochen zuvor noch 60 Prozent der Menschen Angst eingeflößt, lag dieser Anteil nun nur noch bei 52 Prozent. Umgekehrt ist die Zahl derer gestiegen, denen die Maßnahmen als übertrieben erscheinen.
Zeigt sich hier echte Rebellion oder nur ein Gewöhnungseffekt? Setzt sich der Eindruck durch, dass das Schlimmste bereits überstanden ist? Oder hat die öffentliche Debatte über Exit-Strategien die Erwartung auf ein baldiges Ende der Ausgangsbeschränkungen geweckt? Über die Ursachen des Stimmungsumschwungs geben die COSMO-Daten keine Auskunft. Sie zeigen nur: Es tut sich etwas.
Das kann Dirk Brockmann von der Berliner Humboldt-Universität bestätigen. Er wertet Bewegungsdaten von Handys aus und stellte dabei fest: Die Deutschen, die seit drei Wochen brav daheim geblieben sind, verlassen wieder ihre Wohnungen. Unverkennbar zeugen die Daten vom wieder erwachenden Bewegungsdrang.
Im Namen des Robert-Koch-Instituts wertet Brockmann Handydaten aus, die die Telekom zur Verfügung stellt. Das erlaubt es ihm, die Verkehrsströme im Land zu erkennen und so abzuschätzen, auf welchen Wegen sich das Virus quer durch Deutschland verbreitet. Gleichsam nebenbei konnte er verfolgen, wie sich das Bewegungsmuster im Zuge des Shutdown verändert hat: Abrupt nahm die Mobilität der Deutschen um rund 40 Prozent ab.
Dann kam der Anruf aus Erfurt. "Frau Betsch fragte: Wir sehen in unseren Daten eine Veränderung. Seht Ihr in Euren auch etwas?", erzählt Brockmann. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Berliner Forscher noch keinen Effekt wahrgenommen. Erst kurz darauf kam ein irritierter Mitarbeiter auf ihn zu: "Guck mal", sagte der. "Da ist was Komisches. Die Mobilität nimmt wieder zu."
Betsch und Brockmann verglichen ihre Befunde und stellten fasziniert fest, wie gut sie miteinander übereinstimmen. "Jedem Datensatz für sich mag man misstrauen", sagt Brockmann. "Aber wenn es so ähnliche Ergebnisse aus zwei völlig verschiedenen Quellen gibt, dann wird es wahrscheinlich kein Zufall sein." Betsch hält es nun für dringend geboten, auf den Stimmungswandel im Land zu reagieren. "Wir müssen den Leuten ins Bewusstsein rufen, dass wir jetzt nicht unsere Gewinne verspielen dürfen", sagt sie.
Tatsächlich hatte es in der Woche vor Ostern Rufe nach Lockerung der Regelungen sowie vermeintliche Signale einer Verbesserung der Lage gegeben. Wissenschaftliche Studien schienen nahezulegen, dass Kinder selten Überträger des Virus seien und Schulen deswegen womöglich bald wieder geöffnet werden können. Die inzwischen umstrittene Querschnittsstudie aus Heinsberg ging von einer zumindest dort erhöhten Durchseuchung und Herdenimmunität der Menschen aus. Auch die Politik debattierte einen möglichen Exit aus dem Lockdown wieder intensiver.